Alasdair Campbell, Der Junge aus Ness

titelbild: Alasdair Campbell, Der Junge aus NessSogenannte Inselromane zeigen einen vollkommenen Kosmos, worin der Held sich autark entfalten kann. Seit Robinson Crusoe denkt man wohl bei jedem Inselroman an Einsamkeit, Überlebenswillen und fein austarierte Alltage.

Alasdair Campbell beschreibt mit dem „Jungen aus Ness“ einmal ein Stück Bildungsgeschichte in einem peripheren Teil Europas. In der Idylle der 1950er Jahre erlebt Colin eine ziemlich durchkomponierte Kindheit, die aus zwei Strängen gespeist wird. Einmal ist es die unversehrte Natur, die mit wenigen Elementen einen tosenden Jahreslauf von Ebbe und Flut, Land und Meer, Gras und Stein vorlegt. Zum anderen ist es ein beinahe hermetisch abgeschlossenes Soziotop, welches über die ganze Welt tentakelartig verankert ist. So erzählen sich die Bewohner ununterbrochen Verwandtschaftsgeschichten und blasen diese auf, indem sie den einzelnen Personen raffiniert mehrere Namen und Rollen zuteilen.

Die Schlüsselstelle des Romans liegt gleich im ersten Kapitel, als der Junge seinen kranken Vater plötzlich im Freien sitzen und lesen sieht. (7) Der Vater erzählt ein bisschen von der Verwandtschaft und zeigt dann auf das Hitzeflimmern in der Ferne. Dafür gibt es ein eigenes Wort. „Na luin“. Kannst du dir das merken?

Colin ist in die gälische Sprache eingeführt und hat den Auftrag, sorgsam darauf zu achten. Was immer später passieren wird, dieses Hitzeflimmern wird er nicht mehr los.

In der Folge gibt es maßgeschneiderten Unterricht, zwischen dem Stoff, der Insel und dem Unterricht passt kein Blatt, wie man so schön über Kleinschulen sagt. Die Lehrerin ist die erste Geliebte des kleinen Buben, allein schon die Ohrringe geben Stoff ab für einen großen Film.

Boxen, Fußballspielen, Torfmoore und Nebel, dazwischen tauchen verlässlich Gespenstergeschichten auf, die man sich beim Heranwachsen oft selbst erzählen muss, damit sie ihren Grusel verlieren. Und jeder ist mit jedem verwandt, wenn einen jemand im LKW kurz mitnimmt, erfährt man gleich ein paar Jahrzehnte Familiengeschichte.

Später kommt Colin nach Aberdeen und studiert. Die Geschichten scheinen jetzt aus dem Whisky-Glas aufzusteigen wie früher aus dem Torf. Aber es sind keine wahren Geschichten mehr, sie könnten wahrscheinlich überall spielen. Das ist auch der Grund, warum die Ausgewanderten immer noch Kontakt zur Insel halten, ein Onkel ist in Chile oder Peru, jedenfalls ordentlich weit genug weg, dass er herzergreifende Post schicken kann.

Statt eines Endes gibt es ein Nachwort von Iain Galbraith, darin erzählt er von der Kraft des Gälischen, das eine Inselsprache für Inseln ist. Gälische Dichter schreiben zwischendurch extra auf Englisch, um zu beweisen, dass sie zweier Weltsprachen mächtig sind. Ausnahmsweise sind es zwei Zahlen, die den Kosmos von Ness beschreiben. Im 20. Jahrhundert sind höchstens 20 Romane auf Gälisch erschienen, und natürlich ist keiner davon ins Deutsche übersetzt worden. Die Einwohnerdichte der Hauptinsel Lewis, wo im Norden Ness liegt, beträgt 10 Personen pro Quadratkilometer, in Bayern 183.

Diese Verlorenheit der Menschen im Quadrat erklärt die Dichte dieses wundersamen Romans.

Alasdair Campbell, Der Junge aus Ness. Roman, a. d. Engl. von Lorenz Oehler [Orig.: The Nessman, Edinburgh 2000]. Mit einem Nachwort von Iain Galbraith
Bozen: Folio Verlag 2018, 301 Seiten, 24,00 €, ISBN 978-3-85256-740-2


Weiterführende Links:
Folio Verlag: Alasdair Campbell, Der Junge aus Ness
Wikipedia: Alasdair Campbell

 

Helmuth Schönauer; 28-05-2018

Bibliographie

AutorIn

Alasdair Campbell

Buchtitel

Der Junge aus Ness

Originaltitel

The Nessman

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Folio Verlag

Übersetzung

Lorenz Oehler

Seitenzahl

301

Preis in EUR

24,00

ISBN

978-3-85256-740-2

Kurzbiographie AutorIn

Alasdair Campell, geb. 1941 auf Lewis, lebt auf den Äußeren Hebriden.