Gabriele Weingartner, Geisterroman

titel: Gabriele Weingartner, GeisterromanEin Zug nach Prag, in dem ein Kafka sitzt, ist ungefähr so witzig wie ein Railjet, in dem die Schwarzen Mander auf dem Weg in die Innsbrucker Hofkirche sitzen.

Gabriele Weingartner ist Germanistin und sie muss deshalb am Lebensabend noch einen Kafka-Roman schreiben, bei dem alle angelesene Kafka-Lektüre des Lebens zum Vorschein kommt. Etwas unwitziger formuliert: Der „Geisterroman“ bedient sich diverser Kafka-Elemente, um die Grenze zwischen Phantastik und Realismus auszuhebeln.

In der Eisenbahnkunde wird ein Zug, der sich selbständig gemacht hat, Geisterzug genannt, analog dazu muss dann ein Roman, der sich selbständig gemacht hat, Geisterroman genannt werden.

Klara in Berlin erfährt vom Tod ihrer Schwester Solveig in Prag, sie wird den Leichnam heimholen und setzt sich deshalb in einen Zug. Dieser bleibt in Agatha-Christie-Manier irgendwo hinter der Elbe in einer Schneewechte stecken und wechselt Zeit, Jahreszeit und historische Verankerung. Klara sitzt naturgemäß neben einem kauzigen Kafka-Forscher, der auf dem Weg nach Prag zum viermillionsten Kafka-Kongress ist. Als der Zug steht, weiß er sofort, Kafka ist an Bord.

Tatsächlich sind die Waggons in diverse Zeitabschnitte verschoben, im vorderen Teil jedenfalls sind „Bürschchen aus Wien und Innsbruck“ (59), die sich auf den Weg nach Galizien machen, um gemetzelt zu werden, ganz vorne ist Kafka, der gerade den Psychiater Otto Gross getroffen hat, dank der genauen Aufzeichnungen der Kafka-Forscher wissen wir jetzt, es ist der 18. Juni 1917.

Klara muss sich das alles als heftigen Kommentar vom Nachbarn anhören, mittendrin döst sie weg und lässt das Dreieck auftauchen, sie, ihre Schwester und deren Mann Veit. Die Schwester ist älter gewesen und muss deshalb die Kindheit allein bewältigen. Klara:

Ich kann die nicht helfen, ich bin doch noch gar nicht auf der Welt. (39)

Dann wird der Blizzard draußen endgültig zu einem Alptraum, in dem das Kind vorwurfsvoll ins Leere fragt:

Wie konnten sie es wagen, 1943 ein Kind zeugen? (133)

Klara erwacht in ihrer Lieblingsposition, die Hand an der Klinke, aber unfähig, eine Tür zu öffnen. Das ist nämlich ihre Lebenshaltung, eine unbeteiligte Beobachterin zu sein. (151)

Ein paar Vorgänge bleiben rätselhaft wie eine Kafka-Vorlesung, die Schwester ist offensichtlich in einer Schönheitsfarm gestorben, die Überstellung des Leichnams klappt klaglos. Der Kafka-Sitznachbar stirbt dann auch noch völlig vereinsamt, er bringt seinen Siegelring nicht mehr vom Finger, um ihn Klara zu schenken, so dass er im Krematorium in Asche aufgeht. Ach ja, Solveigs Asche soll auf den Hebriden verstreut werden, wenn ihr Mann einmal Zeit dazu hat.

Gabriele Weingartner erfüllt sich einen Herzenswunsch, indem sie alles, was sie als Lektüre einmal berührt hat, in einer Kafka-Komposition zu einem Geisterroman zusammenstellt. Wahrscheinlich muss sich jeder Leser seinen persönlichen Geisterroman zusammenstellen, weshalb dieser hier ziemlich verloren über den Ablaufhügel rollt.

Gabriele Weingartner, Geisterroman. Roman
Innsbruck: Limbus Verlag 2016, 224 Seiten, 20,00 €, ISBN 978-3-99039-085-6


Weiterführende Links:
Limbus Verlag: Gabriele Weingartner, Geisterroman
Wikipedia: Gabriele Weingartner

 

Helmuth Schönauer, 19-01-2017

Bibliographie

AutorIn

Gabriele Weingartner

Buchtitel

Geisterroman

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Limbus Verlag

Seitenzahl

224

Preis in EUR

20,00

ISBN

978-3-99039-085-6

Kurzbiographie AutorIn

Gabriele Weingartner, geb. 1948 in Edenkoben, lebt im pfälzischen St. Martin.