Regina Hilber, Überschreibungen
Überschreibungen sind einerseits wohldurchdachte Kompositionsstrategien beim Nachschärfen von Texten, andererseits löst die Literatur im Leser oft Überschreibungen aus, wenn ein bereits bekanntes Bild oder Muster mit einer neuen Software überschrieben wird.
Regina Hilber nimmt die berühmten Stilübungen von Raymond Quenceau zum Anlass, um das alphabetischen Nest zwischen Wald und Wien mit Überschreibungen auszukleiden.
Für die einzelnen Bild- und Textläufe gibt es meist sieben Ansätze, die natürlich in verschiedene Abläufe der Assoziationsketten münden. Den einzelnen Szenen sind jeweils Spontanbilder mit der Handy-Kamera beigefügt, die den Leser zu einer eigenen Überschreibung einladen. Das Kapitel vom Theater freilich muss ohne Bilder auskommen, damit die Dramaturgie des Textes nicht gestört wird.
Im Falle vom Zirkus hingegen rücken zuerst kindliche Ikonen von Clowns und Zeltspitzen ins Bild, ehe dann seltsame Anleitungen auftauchen.
Aber für das Pferd hat das Pony klein zu bleiben! (51)
Darin liegt dieses Paradoxon, das alle Kinder mindestens bis zur Pubertät beschäftigt, warum wird das Pony nicht einfach groß und ein Pferd?
Spektakulär ist natürlich das Kapitel Schilderwald, wo es lebensnah zur Sache geht. Im Schild „defekt“ ist das Wort defekt mit Doppel-F geschrieben, jemand hat auf den SPÖ-Schuppen das Wort Gesindl dazugeschrieben, ein weiches WC für Damen ist „kabutt“, im engen Gastgarten warnt ein Schild „Vorsicht, Koch quert“ und eine pingelig genaue Kinderfördergruppe ist für die Altersgruppe Null bis 3 Komma 6 gedacht.
Sauber gegenübergestellt ist zwischen Wald und Fassaden kein Unterschied mehr, es lässt sich der Wald auf die Fassade projizieren, und umgekehrt ist der moderne Wald ohnehin in Reih und Glied stehend als Fassade mit Not-Wegen angelegt.
Der Leser beginnt automatisch mit seinen persönlichen Überschreibungen, wenn er diese Bilder und Texte seinem eigenen Erfahrungsschatz unterordnet. Diese Überschreibungen kriechen nicht nur unter den Putz hinein, um den Zustand der Mauer zu dokumentieren, auch eine Todo-Liste kann ständiger Überschreibung anheimfallen, gar nicht zu reden von Buchlisten, die sich eines Tages durch ständiges Fortlegen von selbst erledigen.
Im Wienerwald liegen die letzten Ausläufer der Alpen / aber selbst im geringen Gefälle geht alles leichter / die Abwärtsfahrt ist jetzt eine lustige Rutschpartie / dieses Tempo ist perfekt / etwaige Verluste sammeln sich am Graben / in der Krieau / am Donauufer und an der Randzone lückenloses Treiben / alles ist möglich / die Schotten dicht / oder Ablenkungsmanöver / jeder weiß / der Schutzschild heißt Wien / heißt Wald und Werkstatt / niemand schaut zurück. (85)
Jeder trainierte Überschreibungsleser wird so ein Gedicht sofort hernehmen, um es anhand des eigenen Hausberges zu überschreiben zu einem persönlichen Kapuzinerberg, Patscherkofel oder Schlossberg.
Regina Hilber, Überschreibungen. Von Wald bis Wien, Fotos
Wien: Edition CH 2016, 88 Seiten, 12,00 €, ISBN 978-3-901015-69-4
Weiterführende Links:
Edition CH: Regina Hilber, Überschreibungen. Von Wald bis Wien
Wikipedia: Regina Hilber
Helmuth Schönauer, 30-04-2017