Undinė Radzeviciute, Fische und Drachen

undine radzeviciute, fische und drachenSogenannte Chinesenviertel sind dazu da, dass sich darin die Kultur von Jahrtausenden mit den aktuellen Menschenschicksalen der jeweils individuellen Gegenwart begegnen können.

Undinė Radzeviciutė lässt drei Frauengenerationen in einem Chinesenviertel wohnen, wobei bewusst auf die Ortsangabe verzichtet wird, nur Freundschaften, Reisen, Studien und Bücher spielen in konkreten Städten, mit denen die Heldinnen vernetzt sind.

Großmutter verleugnet ihre argentinische Herkunft so gut es geht, sie hält zur Familie einen vorsichtigen Kontakt, denn immerhin ist „die Familie ein Ort, wo man einander erzieht.“ (97)

Mutter Nora sieht das ganze Zusammenleben pragmatisch, sie ist sie die Einzige, die regelmäßig verdient, indem sie Erotik-Romane „von der Stange“ schreibt. Die erwachsenen Töchter Miki und Schascha versuchen trotz prekärer Berufsaussichten die Gegenwart witzig zu beleuchten, indem sie sich immer wieder mit dem internationalen Zeitgeist auseinandersetzen.

Dabei arbeitet Schascha an einem ganz anderen, entlegenen Projekt. Sie versucht das Geheimnis eines Jesuiten zu erforschen, der im 18. Jahrhundert am Hof des chinesischen Kaisers mal als Jesuit, mal als Maler seine Mission zu erfüllen hat. Diese höfische Welt präsentiert sich klar und schräg wie von einem anderen Stern. Die chinesische Hof-Kultur besticht durch Regeln, die sich auf Malerei und Religion gleichsam anwenden lassen. So wird in einem Bild der Hauptberg Gastgeber genannt, dem sich die anderen Gipfel als Gäste unterzuordnen haben.

An dieser chinesischen „Gegenwelt“ arbeiten sich die Heldinnen ab. Kann man Erotik-Romane nach der Natur schreiben? lautet so eine Überlegung. Und warum sind die Ereignisse in der Vergangenheit viel atemberaubender als die Gegenwart? (348)

Eine Zeitlang hält Oma noch gut mit, wenn es um die Einordnung der Gegenwart in ein historisches Gesamtgefüge geht. Das Alter ist jene Zeit, wenn sich die offenkundigen Feinde verringern. (278) Doch dann flieht Oma, zuerst aus der Wohnung, dann aus der Welt. Es läuft alles gewöhnlich ab, so dass auch die Enkelin unauffällig bei einer Foto-Safari in Ägypten stirbt. Sie kehrt nach einem Monat als Urne zurück. Alles in Ordnung sagt ihre Schwester, als sie schon längst in der Urne ist und die Mutter aus einer fremden Stadt anruft.

Zeit und Ort lösen sich allmählich auf. Die letzte Heldin ist in einen Schacht gestürzt, mitten in der Wohnung, wie das eben in baufälligen Häusern der Altstadt so ist. Es ist Licht in Sicht, die Chinesen haben für solche Fälle Leitern eingebaut.

Fische und Drachen schwimmen im großen Becken der Kulturen herum, beschnuppern einander aber fressen sich nicht. Es sind so klare durchsichtige Sätze, die alles logisch und erklärbar machen, auch wenn man sie vielleicht mit der herkömmlichen Logik nicht versteht. - Hell wie ein Aquarium im Gegenlicht.

Undine Radzeviciute, Fische und Drachen. Roman, a. d. Litauischen von Cornelius Hell [Orig.: Žuvys ir Drakonai, Vilnius 2013]
Salzburg: Residenz Verlag 2017, 398 Seiten, 24,00 €, ISBN 978-3-7017-1676-0

 

Weiterführende Links:
Residenz Verlag: Undine Radzeviciute, Fische und Drachen
Wikipedia: Undine Radzeviciute (engl.)

 

Helmuth Schönauer, 16-04-2017

Bibliographie

AutorIn

Undine Radzeviciute

Buchtitel

Fische und Drachen. Roman

Originaltitel

Žuvys ir Drakonai

Erscheinungsort

Salzburg

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Residenz Verlag

Übersetzung

Cornelius Hell

Seitenzahl

398

Preis in EUR

24,00

ISBN

978-3-7017-1676-0

Kurzbiographie AutorIn

Undinė Radzeviciutė, geb. 1967 in Vilnius, lebt in Vilnius.