Gay Talese, Der Voyeur

talese_voyeur.jpgDie wirklich wahren Romane sind so echt, dass man nicht mehr unterscheiden kann, was Fiktionen und was Fakten sind.

Gay Talese gilt als Meister des „literarischen Journalismus“, der seit den 1960er Jahren Furore macht, indem Reportagen mit den Mitteln der Literatur entworfen werden. So ist auch die Hauptfrage immer, gibt es das wirklich so?

Im Falle vom „Voyeur“ wird der Autor jahrzehntelang von einem gewissen Gerald Foos mit Post traktiert, er möge doch ein Buch über den Voyeurismus im Allgemeinen und seine sexuelle Spielart im Besonderen machen. Zu diesem Zweck führt der Voyeur, wie er sich selbst nennt, ein voyeuristisches Bilanzbuch, in das er seine Beobachtungen einträgt.

In diversen Zimmern des Motels sind als Lüftungsschlitze getarnt Beobachtungsluken angebracht, wodurch man einen perfekten Blick auf das meist sexuelle Ambiente hat.

Als Motel-Betreiber hat der „Spechtler“ die Chance, auch Gerüche und Abartigkeiten zu beobachten. So entlarvt er jede Menge Waschbecken-Pinkler, und auch Hundebesitzer, die den Teppich für diverse Notdürfte verwenden, werden anderntags bei der Abreise zur Kasse gebeten.

Die Beobachtungen aus den 1970er Jahren haben einen zeithistorischen Background, als vor allem Vietnam-Veteranen in den Motels eine Art Sexualleben wiederaufnehmen wollen. Amputationen und geistige Entstellungen sind Begleitmusik der Männer, die je nach Temperament heftig oder routiniert zu Sache gehen. Manchmal ist auch der Beobachter so erregt, dass er nach der Nummer den beteiligten Akteuren nachfährt, um zu sehen, wie sie wohnen.

Man sieht einem Menschen in der Öffentlichkeit fast nie an, in welcher privaten Hölle er lebt. (59)

Die Szenen werden nach einem soziologischen Buchhalter-Muster protokolliert: Beschreibung, Tätigkeit, Fazit. Die Personendaten sind aus den Ausweispapieren abgeschrieben, was eine höhere Art von Genauigkeit suggeriert, wenn ein Weißer, 188 cm groß, eine Brust-Erweiterte, 168 groß, das erste Mal im Halbdunkel anfasst.

Im Sinne einer Umfeld-Studie werden aus Kleidungsstücken, Accessoires, Gerüchen und Gesprächsfetzen Rückschlüsse auf das Leben der Helden gezogen. In einer lapidaren Tabelle sind die diversen Stellungen und ihre Häufigkeit aufgezeichnet, ein Foto-Teil, der ein verschwommenes Motel mit unscharfen Figuren zeigt, soll die Echtheit der Anlage und der Studie belegen.

Der Voyeur freilich hält es mit der Zeit nicht mehr aus, die Bürde des Beobachtens allein zu tragen. Hierin gleicht er einem Schriftsteller, der es auch nicht aushält, einen Roman im Kopf herumzutragen, ohne ihn auszuspucken. Diese Aufgabe übernimmt schließlich Gay Talese, indem er einen Roman aus dem Voyeur-Material macht und gleichzeitig eine Studie über den Voyeur entwickelt.

Voyeurismus ist in jedem Menschen manifest, es ist nur ein anderes Wort für Neugierde und Lebenslust. Jeder Leser fühlt sich von diesem Roman bis ins Innerste seines Wesens beobachtet, ein scharfer und dennoch sanftmütiger Roman!

Gay Talese, Der Voyeur. Roman, a. d. Amerikan. von Alexander Weber. [Orig. Titel:The Voyeur's Motel, New York 2016]
Hamburg: Tempo Verlag 2017, 222 Seiten, 20,60 €, ISBN 978-3-455-00099-3

 

Weiterführende Links:
Tempo Verlag: Gay Talese, Der Voyeur
Wikipedia: Gay Talese

 

Helmuth Schönauer, 20-04-2017

Bibliographie

AutorIn

Gay Talese

Buchtitel

Der Voyeur

Originaltitel

The Voyeur's Motel

Erscheinungsort

Hamburg

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Tempo Verlag

Übersetzung

Alexander Weber

Seitenzahl

222

Preis in EUR

20,60

ISBN

978-3-455-00099-3

Kurzbiographie AutorIn

Gay Talese, geb. 1932 in Ocean City, lebt in New York.