Henry Hitchings (Hg.), Die Welt in Seiten
Ob man ein Leser mit Tiefgang ist, lässt sich durch eine einzige Frage beantworten: Hast du neben der Bibliothek eine Buchhandlung, in der du persönlich angesprochen wirst?
Jeder anerkannte Leser wird auf Anhieb seine Lieblingsbuchhandlung beschreiben können, voller Anekdoten und kauzigem Inventar. Der Unterschied zu seiner Lieblingsbibliothek besteht vielleicht in der Ordnung der Bücher. Nach einem Diktum von Virginia Woolf „gibt es gebrauchte Bücher, die wilde Bücher sind, heimaltlose Bücher. Sie bilden gewaltige Herden mit buntem Gefieder und besitzen einen Charme, der den domestizierten Bibliotheksbänden fehlt.“ (17)
In dieser Beschreibung geht die Funktion des Antiquariats in den verschweißten Buchhandel über, Elemente der Massenware versickern in Regalen von Solitären und Unikaten.
Henry Hitchings stellt die „Welt der Seiten“ aus Eindrücken aus der ganzen Welt zusammen. Während wir im deutschsprachigen Raum allmählich wieder die Konzernbuchhandlungen verlassen und zu echten Buchhandlungen zurückfinden, wie das Beispiel der Innsbrucker Buchhandlung Wagner‘sche zeigt, haben in anderen Ländern die markanten Buchhandlungen diesen Irrsinnsschritt oft ausgelassen.
So erzählt Andrej Kurkow aus der Ukraine, wie der sowjetische Buchladen nach dem Umbruch allmählich wieder mit „Bukinist“ überschrieben worden ist. Dabei ist es Kulturstädten wie Czernowitz sogar gelungen, die Mannigfaltigkeit aus der Zeit des Habsburgerreiches in den Regalen wieder auszulegen.
Juan Gabriel Vasquez aus Bogota erzählt, wie er während des langweiligen Studiums immer öfter in die zwei zentralen Buchhandlungen abgetaucht ist und dort allmählich Schriftsteller geworden ist.
Für einen Schriftsteller sind Buchhandlungen Orte der Transformation. (62)
Ali Smith aus Inverness hat so nebenher ehrenamtlich in der Buchhandlung von Amnesty International gearbeitet, bis sie eines Tages bemerkt, dass sie durch diese Second-Hand Bücher zu einer Schriftstellerin geworden ist, die auf diesen „Zweiten Griff“ nach dem Wissen spezialisiert ist. Nichts ist so aufschlussreich wie ein gebrauchtes Buch, wenn man durch Haptik den Vorbenützer aufspürt oder aus dem Text Lesesignale durchschimmern.
Weitere Biblio-Paradies-Beschreibungen stammen aus Ägypten, Kenia, Kalifornien, Rom oder dem ehemaligen Jugoslawien.
Der Herausgeber Henry Hitchings dröselt im Eingangsessay sein Leben ganz dramatisch auf nach biographischen Eckdaten. „Ich bin einunddreißig und in Buenos Aires. Ich bin zweiunddreißig und in Ruon. Ich bin siebenunddreißig und mache einen Wanderurlaub in Norfolk.“ Anhand der jeweiligen Buchhandlung dort lässt sich das eigene Leben beschreiben, eine Methode, die auch der normale Leser anwenden kann, sofern er nicht ausgedünnt in der Fläche auf digitale Zulieferer angewiesen ist.
Henry Hitchings (Hg.), Die Welt in Seiten. Liebeserklärungen an Buchhandlungen, a. d. Engl. von Gerhard Henschel [Orig.: Browse, The World of Bookshops, London 2016]
Hamburg: Atlantik Verlag 2017, 288 Seiten, 20,60 €, ISBN 978-3-455-00120-4
Weiterführende Links:
Atlantik Verlag: Henry Hitchings (Hg.), Die Welt in Seiten
Wikipedia: Henry Hitchings
Helmuth Schönauer, 19-11-2017