Melinda Nadj Abonji, Schildkrötensoldat

melinda nadj abonji, schildkrötensalatZusammengesetzte Wörter verlieren oft die Eindeutigkeit, obwohl mit jedem Wortsegment die Sache noch genauer beschrieben werden soll. Der Schildkrötensoldat kann eine langsame Witzfigur aus einem Bilderbuch sein, genauso aber auch eine bewaffnete Kröte oder ein Soldat, der hinter einem Schild versinkt.

Melinda Nadj Abonji verwendet den seltsamen Begriff „Schildkrötensoldat“ vor allem deshalb, weil er in seiner Rätselhaftigkeit gut für Kreuzworträtsel verwendbar ist. Und das Kreuzworträtsel ist die einzige Form der Wahrnehmung, die für Zoltán Kertész relevant ist.

Zoli, wie der Held von seiner verwandten Erzählerin liebevoll genannt wird, ist ein Mensch, nicht geschaffen für diese Welt. In einem Arbeitszeugnis steht lapidar:

Der Gemütszustand von Kertész Zoltán ist unterdurchschnittlich. Er hat Schwierigkeiten, zu kommunizieren. Sein Sprechen ist unverständlich, sein Verhalten ist infantil und für andere unerklärlich. (86)

Das einzige, was Zoli klaglos bewältigt, sind die Kreuzworträtsel, wenn sich die Welt in passende Buchstaben auflöst und das semantische Gemenge horizontal und vertikal einen solitären Sinn ergibt.

Ich bin der König der Kreuzworträtsel. (37)

Die äußeren Andockpunkte an die Gesellschaft sind für den Helden fatal. Als Mitfahrer auf dem Motorrad des Vaters fällt er diesem bei erstbester Gelegenheit vom Sattel und überlebt äußerlich unverletzt. Bei der Arbeit holt er sich blutige Verwundungen und als man ihn nach erfolglosen Schulversuchen ins Militär steckt, geht er dort an den Umständen zugrunde. Mit seltsamen Vokabeln beschreibt er sein Leben wie ein Kreuzworträtsel, er ist ein „Schildkrötensoldat“ und bekommt den vollen „Soldatenzorn“ zu spüren, wenn er an die eigene „Fahnenfurcht“ denkt. (79)

Fachbegriffe wie Fleckanzug, Arrest oder Säugetier ergeben einen neuen Sinn, wenn sie richtig hintereinandergestellt werden. Aber auch der Staat zerfällt offensichtlich in seine Buchstaben. Man hat ihn für den Jugoslawienkrieg in irgendeinen Armeeteil gesteckt, ohne ihm etwas zu erklären. Aber für diesen Krieg gibt es ohnehin keine Erklärung, und so zerfallen Staat und Helden gemeinsam.

Die Erzählerin Hannah recherchiert Zolis Leben, von dem am Grabstein steht, „hier ruht“, in Wirklichkeit müsste wohl stehen, „hier versucht zu ruhen“. Die Chronistin bemüht sich, selbst etwas Ruhe in das wilde Denken des Zoltán Kertész zu bringen. Als Erinnerungsvorlage dient eine alte Jugoslawienkarte, die ein unversehrtes Gebiet für die Touristen darstellt und mit staubfreien Straßen wirbt. (114) Die Begriffe der Erzählerin sind genauso verschränkt und gekreuzt wie die Begriffskulturen des Helden.

Hör auf, mit dem Hund zu reden, hat man schon früh zu Zoli gesagt, als dieser offensichtlich die einzig glaubhaften Geschichten seinem Hund anvertraut hat. Schildkrötensoldat erzählt von einer Verstörung, von der wir an manchen wahrnehmungstrüben Tagen alle heimgesucht werden.

Melinda Nadj Abonji, Schildkrötensoldat. Roman
Berlin: Suhrkamp Verlag 2017, 172 Seiten, 20,60 €, ISBN 978-3-518-42759-0

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Melinda Nadj Abonji, Schildkrötensoldat
Wikipedia: Melinda Nadj Abonji

 

Helmuth Schönauer, 24-11-2017

Bibliographie

AutorIn

Melinda Nadj Abonji

Buchtitel

Schildkrötensoldat

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Suhrkamp Verlag

Seitenzahl

172

Preis in EUR

20,60

ISBN

978-3-518-42759-0

Kurzbiographie AutorIn

Melinda Nadj Abonji, geb. 1968 in Becsej, lebt in Zürich.