Jörn Klare, Was bin ich wert?

Buch-Cover

Zwar besteht in unserem kapitalistischen System alles aus Rechnungen, die offensichtlich eine Wertermittlung voraussetzen, aber dann gibt es doch das große Tabu, dass man den Menschen und sein alltägliches Treiben nicht einer Preisermittlung aussetzen darf.

Jörn Klare sucht verschiedene Stationen auf, an denen offensichtlich der Mensch einen Wert hat und Opfer eines Zahlenspieles ist. Schon das Eingangsbeispiel "Rentabilitätsberechnung" aus dem Konzentrationslager Buchenwald zeigt, dass das Umrechnen von menschlichen Werten in ein Geldsystem ethisch alle Grenzen sprengt.

Teils als Selbstversuch, teils als Analyse seiner liebgewonnenen Mitmenschen sprintet nun der Autor durch diverse Klassifikationstabellen und Wertsysteme. Da wird ausgerechnet, dass der reine Materialwert eines Menschen knapp tausend Euro beträgt, für einen Service des Körpers der Hausarzt fünfunddreißig Euro berechnen darf und ein Toter durch einen Verkehrsunfall auf 1,2 Millionen kommt.

Es gibt sogar ganze Berufsgruppen, die mit dem Taxieren der Menschen ihr Geld machen, man denke nur an die sogenannten Headhunter, die Köpfe jagen und nach einer gewissen Prämie dem neuen Arbeitgeber zur Verfügung stellen.

Ablöse-Prämien im Fußball bedingen ebenfalls eine Preiseinschätzung, Karrieren in der Kunst lassen den Marktwert eines Menschen oft ins Gigantische hochschnellen. Allmählich entsteht beim Leser der Eindruck, dass die Preisermittlung zwar generell tabuisiert ist, in Wirklichkeit an allen Ecken und Enden stattfindet. Was kostet ein Menschenleben aus der Sicht des Mörders? Was kostet eine halbe Stunde Körperkontakt mit einer Prostituierten? (Schöner pädagogischer Satz, um Kindern Prostitution begreifbar zu machen:

Es gibt Männer, die sind so hässlich, dass sie dafür bezahlen müssen, wenn sie geküsst werden wollen. 185)

Das Hauptfeld der Preisermittlung stellen naturgemäß Gesundheitswesen und Versicherungsbranche dar. Was bringt, ökonomisch gerechnet, ein Mensch der Gesellschaft? Ab wann wird der Mensch zu einer gesellschaftlichen Bürde? Wie müssen Versicherungsprämien kalkuliert werden, damit sich das System nicht selbst an die Wand fährt?

Und nach der Frage, ob es ein Achtzigjähriger noch wert ist, dass man ihn mit einer künstlichen Hüfte ausstattet, stellt sich diese lange verdrängte Frage unbarmherzig: Ab wann ist es günstiger, dass jemand stirbt? - Hier schließt sich erschreckend der Kreis zur Eingangskalkulation der SS in Buchenwald.

Jörn Klare beschreibt neben den reinen Kalkulationsfaktoren auch den Auftritt der Interview-Partner. Manche sind gehemmt, wenn sie Tabus ansprechen, manche sind stolz auf die Rechenmodelle, ein Volkswirtschaftler aus Innsbruck spricht auch von den Grenzen, nicht alles, was man ausrechnen könnte, darf auch ausgerechnet werden.

Alle ausgesprochenen und tabuisierten Rechenarten freilich unterliegen einem gesellschaftlichen Kontext. Aus den Preisermittlungen der jeweiligen Gesellschaft, ob Sklavenpreis, Wert eines Soldaten oder Wert einer Arbeitskraft, sagen mehr über den Zustand der Gesellschaft aus, als die finalen Zahlen. Jörn Klare beendet seine Recherchen mit einer schönen Wertermittlung. Seine Tochter, die noch nicht großer Zahlen mächtig ist, schätzt den Vater trocken mit 120 Euro ein. Mehr kann sie sich nicht vorstellen. Mehr sollten wir uns auch nicht vorstellen.

Jörn Klare, Was bin ich wert? Eine Preisermittlung
Berlin: Suhrkamp 2010 ( = st 4168 Suhrkamp nova), 265 Seiten, 15,40 €, ISBN 978-3-518-46168-6

 

Weiterführender Link:
Suhrkamp-Verlag: Jörn Klare, Was bin ich wert?

 

Helmuth Schönauer, 26-04-2011

Bibliographie

AutorIn

Jörn Klare

Buchtitel

Was bin ich wert? Eine Preisermittlung

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2010

Verlag

Suhrkamp Verlag

Reihe

st 4168

Seitenzahl

265

Preis in EUR

15,40

ISBN

978-3-518-46168-6

Kurzbiographie AutorIn

Jörn Klare, geb. 1965, schreibt Reportagen und Features.