Marlen Haushofer, Der gute Bruder Ulrich

marlen haushofer, der gute bruder ulrichWer einmal ein Jahrhundertbuch geschrieben hat, kann auch seine übrigen Texte nicht mehr im Schatten halten. Zwar fallen diese Texte dem Gesetz der Erinnerungsschwerkraft gehorchend ins bodenlose Vergessen, sie werden aber von Nachlasspflegern und angehenden Archivaren immer wieder hervorgeholt, gedreht und gewendet und frisch für den literarischen Verzehr paniert.

Marlen Haushofer, die Bestsellerautorin der „Wand“ (1963), hat quasi als Fingerübung drei kleine Märchen geschrieben, die sie vermutlich bei den schon damals unumgänglichen Schul-Lesungen herauskramen konnte. Freilich sind die Märchen erst drei Jahre nach dem Tod der Autorin für einen Gastauftritt in der pädagogischen Leuchtschrift „Die goldene Leiter“ erschienen. In dieser Heftserie sollte zum Unterschied von den berüchtigten Schundheften wertvolle Literatur erscheinen.

So sind denn die Märchen einmal als jene Literatur zu lesen, die von damaligen Pädagogen für wertvoll erachtet wurde. Außerdem dienen die Texte als nützliche Folie, um darauf die damals neuesten lesepädagogischen Schachzüge auszuprobieren. Die Märchen sind ein Experimentierfeld für Tiefenpsychologie, Soziologie der Machtströme und aufzubrechende Rollenbilder.

Die drei Märchen haben einen artigen Plot, mit dem sich allerhand Themen diskutieren lassen. Im „Waldmädchen“ (3) wächst eine Frau selbstbestimmt und emanzipiert heran, weil sie nur einen Verwandten hat, und der ist Räuber. So bleibt sie von Erziehungsmaßnahmen der Eltern verschont und kann Königin werden. Der König reitet nämlich den Wald ab auf der Suche nach einer Frau. Als er das Waldmädchen sieht, wird geheiratet, und ein frisch geborener Sohn vervollständigt das Glück. Aber die Königin ist traurig, weil der Wald fehlt. Der Räuber wird geholt und zum Grafen gemacht, aber alles hilft nichts, er flüchtet zurück in den Wald. Das sollte auch die Königin tun, meint ihr Mann, aber sie hält an der neuen Rolle fest:

Nein, jetzt bin ich hier zu Hause. (20)

„Das Nixenkind“ (23) erzählt von der Traurigkeit eines Müller-Ehepaares, das keine Kinder kriegt. Nach Fehlversuchen, ein Kind zu kaufen, erbarmt sich schließlich eine Nixe, die am Mühlrad sitzt, und überlässt ihr nasses Kind den Müllern. Ab jetzt wird viel geweint, und ständig ist alles nass. Das Kind nämlich rennt ständig ans Wasser, weil das sein Element ist. Man glaubt schon, dass es ertrinkt, da tut sich eine blühende Wiese auf und das Kind ist so gnädig, darin zu spielen, statt ins Wasser zu gehen.

„Der gute Bruder Ulrich“ (39) ist der Sohn einer Amme, die den Königssohn säugen muss. Aber auch Ulrich, der Naturbursch aus niedrigem Milieu, muss immer wieder einspringen, um den stets unzufriedenen Königssohn bei Laune zu halten. Er schenkt ihm die eigene Schönheit, den kompletten Lebenswillen und tauscht sogar, als es ums Sterben geht. Er ist eben der gute Bruder, der umso besser wird, je mehr er von sich verschenkt. Mit viel Getue gelingt es dem Königsbruder schließlich, doch noch zu sterben. Jetzt ist alles paletti.

Interessant sind diese Märchen vor allem für Fiktionsforscher, weil sie mit diesen „märchenhaften Kleinodien“ recht gut den Fiktionszustand des Bestsellers „Die Wand“ vermessen konnten. Während die Wand immer wieder neu aufgelegt und diskutiert wird, verlöschen die Märchen jedes Mal von selbst, wenn sie angetastet werden.

Das liegt wahrscheinlich am Wesen der Märchen. Diese sollte man nicht bis zu ihrem Eigentod niederinterpretieren. Der blaue Vogel, der am Schluss der Trilogie auftaucht, ist einfach ein Motiv und basta. Man fragt ja auch nicht bei bunten Tüchern mit volkskundlichen Motiven, was sie bedeuten. Während der Stickerei hat sich ein Motiv ergeben und ist über Jahrhunderte schön geblieben, indem es keine Funktion hatte.

Wenn sie funktionslos gehalten werden, sind die Märchen von Marlen Haushofer tatsächlich witzig und schön.

Im Nachwort hält sich auch Markus Bundi vornehm mit überdehnten Deutungen zurück. Er ermuntert die Leserschaft, einfach zu genießen und das Lesebändchen während der Lektüre langsam vorrücken zu lassen, bis es hinten aus dem Buchblock wieder herauskommt.

Marlen Haushofer, Der gute Bruder Ulrich. Märchen-Trilogie, mit einem Nachwort von Markus Bundi
Innsbruck: Limbus Verlag 2020, 60 Seiten, 12,00 €, ISBN 978-3-99039-165-5

 

Weiterführende Links:
Limbus Verlag: Marlen Haushofer, Der gute Bruder Ulrich
Wikipedia: Marlen Haushofer

 

Helmuth Schönauer, 18-06-2020

Bibliographie

AutorIn

Marlen Haushofer

Buchtitel

Der gute Bruder Ulrich. Märchen-Trilogie

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2020

Verlag

Limbus Verlag

Seitenzahl

60

Preis in EUR

12,00

ISBN

978-3-99039-165-5

Kurzbiographie AutorIn

Marlen Haushofer, geb. 1920 in Frauenstein, starb 1970 in Wien.