Leopold Federmair, Tokyo Fragmente

leopold federmair, tokyo fragmenteTokyo Fragmente sind wahrscheinlich genauso schützenswerte Originale wie Lebensmittel, Weine oder Käse, die ihre Ursprungsbezeichnungen als Markenzeichen geschützt haben. Tokyo Fragmente könnte man in einer Schutzurkunde vielleicht als Notate bezeichnen, die ein Sprachforscher während seines Aufenthaltes im Großraum Tokyo niederlegt.

Leopold Federmair notiert in überschaubaren Erlebnis-Schleifen, im aktuellen Fall sind acht solcher Erfahrungsverdichtungen jeweils mit einem Foto als Kapitel ausgewiesen. Diese Einteilung ist aber völlig offen, denn die Gedankenschlieren werden niemals eingesperrt. Im Gegenteil, immer wieder treten Überlegungen zutage, wie man Tokyo anders erfahren könnte.

So tritt einmal der Wunsch auf, die Strecke, die üblicherweise mit der U-Bahn abgewickelt wird, oberirdisch mit einem Notizblock zu Fuß abzugehen.

Das Erzählset ist einerseits unendlich, weil alles Stoff sein kann, andererseits recht minimalistisch, weil es sich letztlich darum dreht, wie ein Übersetzer in einer fremden Sprache lebt. An dieser Kante, wo das europäische geprägte Empfindungsvokabular auf die japanische Sprache stößt, gibt es semantischen Vulkanismus, die Verwerfungen gehen mitten durch den Satz.

Für den Leser ist an diesen Stellen, also immer, Langsamkeit angesagt. Zwar erklärt der Autor die einzelnen Wörter auf europäisch, es bleibt aber oft ein wunderlicher Klang darübergeschoben. Allein das Aufzählen der Orte, die das notierende Ich bei einem Spaziergang abwickelt, erscheint als Klangwolke einer fernen Welt. Für jemanden, der sich im Japanischen auskennt, wird wahrscheinlich diese permanente Übersetzerleistung extra zu würdigen sein.

Aber auch ohne Japanisch-Kenntnisse tut sich in den Fragmenten auf jeder Seite was. Obwohl der Held eigentlich übersetzt, spazieren geht, seine Tochter erzieht und die Tokyo-Welt geschäftlich und künstlerisch abscannt, ist immer was mit der Witterung, was bemerkenswert ist, die Personen erscheinen zuerst als Rollenträger von etwas Unbekanntem, ehe sie dann allmählich während des Gesprächs zu echten Menschen aufblühen. Der Stoff ergibt sich in Seitensträngen des Übersetzens oder drängt sich einfach in den Text.

So heißt es anlässlich einer Würdigung eines verstorbenen Künstlers, dass das ganze nichts mit Tokyo zu tun hat, aber jetzt, wo der Betrachter in Tokyo sitzt, ist alles Wurst und alles ist Teil eines Tokyo Fragments. Ein harmloser Besuch im Kindergarten ufert zu einer Bildungs-philosophischen Exkursion aus.
Die Fragmente funktionieren in beiden Richtungen. Einmal werden allgemeine Erkenntnisse auf den konkreten Fall Tokyo angewendet. „Die urbane Dichte Tokyos ist besonders hoch.“ Andererseits werden aus Tokyo allgemein gültige Erkenntnisse abgeleitet.

Tokyo ist eine transversale Stadt. Eigentlich sind alle Städte transversal. (83)

Oft ergibt sich eine Erkenntnis während des Formulierens.

Harajuku, Shoppingviertel, Jugendkultur. Jungsein ist Einkaufen, oder? (21)

Das Campus-Notizheft, in das die meisten Gedanken eingetragen werden, funktioniert allein schon dadurch, dass es ständig herumgetragen wird und dadurch eine eigene Zeitwährung schafft. „Zeit gefunden, durch den Park zu flanieren.“ (18) Aber auch als Seitenstrang zur Übersetzertätigkeit auf dem Schreibtisch ausgelegt, zieht es immer wieder Sätze an sich, die während der Übersetzung eines ganz anderen Projektes entstehen.

Tokyo Fragmente sind ein eigenes Genre, könnte man sagen, das seine Einmaligkeit wie eine ortsgeschützte Marke ausspielt. Manchmal ist es ein Logbuch, dann ein Erziehungsprotokoll für die Tochter, ein Stadtführer, in dem Bauten, Baumeister und Stile aufgezählt sind, ein Wörterbuch, in dem Begriffe an Ort und Stelle seziert werden, und schließlich eine beruhigende Fibel, die zeigt, wie man ein aufregendes Leben in aller Stille Japans führen kann.

Leopold Federmair, Tokyo Fragmente
Salzburg: Otto Müller Verlag 2018, 396 Seiten, 24,00 €, ISBN 978-3-7013-1264-1

 

Weiterführende Links:
Otto Müller Verlag: Leopold Federmair, Tokyo Fragmente
Wikipedia: Leopold Federmair

 

Helmuth Schönauer, 28-10-2018

Bibliographie

AutorIn

Leopold Federmair

Buchtitel

Tokyo Fragmente

Erscheinungsort

Salzburg

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Otto Müller Verlag

Seitenzahl

396

Preis in EUR

24,00

ISBN

978-3-7013-1264-1

Kurzbiographie AutorIn

Leopold Federmair, geb. 1957 in Wels, lebt in Wien.