Thomas Macho, Das Leben nehmen

thomas macho, das leben nehmen„Im übertragenen Sinn beginnt jede Karriere eines Selbstmörders mit einem Hungerstreik.“ (257)

Der Kulturphilosoph Thomas Macho nimmt dem Tabu-Thema Suizid die erste Verbunkerungsmöglichkeit, indem er das Thema scheinbar beiläufig analysiert wie alles, was in Geschichte, Film und Literatur in den letzten Jahrhunderten so vorgekommen ist. Das Zitat vom Hungerstreik geht auf Hermann Burger zurück, der seine Literatur offensichtlich auf den Suizid hin komponiert hat. Und einmal ins Fahrwasser der Diskussion gelangt, gibt es fast nichts, was nicht mit einem Suizid zu tun haben könnte. „Wem gehört mein Leben?“ Nicht umsonst steht als Abspann diese Frage auf dem hinteren Cover.

Als unvoreingenommener Leser kümmert man sich zuerst einmal um die passenden Begriffe. Selbstmord ist out, nicht nur, weil er eine Zeitlang als Doppelmord bezeichnet worden ist, nämlich als Eigenvernichtung von Seele und Körper. Suizid ist gängig, der Autor nimmt aber oft den Ausdruck Selbsttechnik, weil es ja meist um die Art geht, wie jemand sein Leben beendet und weniger um die Begründung.

Als Kafka todkrank im Sanatorium sitzt, soll er einem Besucher den paradoxen Befehl gegeben haben: „Töten Sie mich, oder sie sind ein Mörder.“ In diesem Paradox steckt ja das Dilemma, das Cesare Pavese so zusammenfasst:

Welch ein Tod, nicht mehr sterben zu wollen. (53)

Thomas Macho schreibt über lange Strecken eine Geschichte des Suizids, wie er in Filmen und Romanen vorkommt. Immer wieder sind Standbilder eingedruckt, die er Film-Still nennt. Darin kommt zum Ausdruck, dass beim Suizid ein Leben zu einem Standbild angehalten wird. Mit diesem Überblick kommt auch recht gut zum Ausdruck, dass es manchmal Ereignisse gibt, die das Thema geradezu explodieren lassen. So kommt es deshalb zum Werther-Fieber, weil hier das erste Mal eine Maßnahme angeboten wird, was man nach geglückter Lektüre tun könnte, nämlich sich umzubringen. Das gilt wohl heute noch als die beste Art, eine Lektüre zu beenden.

Groß in Mode ist das Thema auch im Fin de Siècle, wo je nach Lesart Morbidität, Burnout oder gesellschaftlicher Stillstand zur vermehrten Sehnsucht nach dem Tod führen. Der Erste Weltkrieg hat vielen diesen Wunsch dann ziemlich unelegant erfüllt.

Ein Leckerbissen sind natürlich die Umstände von Suizid, die Rede ist hier von „Selbsttechnik“. In einer Tabelle ist angeführt, an welchen Locations die häufigsten Selbsttechniken vonstatten gehen, hängen ist hoch im Kurs. Die Steigerung ist das das Selfie mit Selbsttechnik, wie es in diversen Kunstprojekten vorkommt. Dabei macht der Eigen-Delinquent noch ein Foto von sich am Seil und stellt es in die Cloud, in der er wohl anschließend selbst Platz nimmt.

Thomas Macho nimmt dem Thema jeglichen Schrecken. Erst wer befreit ist, kann sich wirklich dem Suizid zuwenden. Foucault empfiehlt sogar, ihn mit einer Orgie oder zumindest einem Fest zu begehen.

Die häufigsten Ursachen für einen Suizid liefert übrigens der Staat, indem er Wehr-, Schul- und Steuerpflicht eingeführt hat. Alle drei Komponenten sind der ideale Nährboden für Suizid, der im Schulbereich durch den Schüler Gerber oder den Amoklauf von Columbine geradezu ideengeschichtlich abgebildet ist.

Im Nachwort fasst Thomas Macho das Aufgeschlüsselte in sieben Thesen zusammen, die wissenschaftlich fundiert und klar definiert sind. Ein Apparat mit Anmerkungen von fast hundert Seiten Umfang stellt klar, dass es sich um eine Art Handbuch handelt, mit dem sich auch weiterarbeiten lässt.

Als Vergnügungsleser bleibt man freilich an den vielen Pointen hängen, die der Suizid auch liefert. Schließlich sind ja jene Witze die besten, in denen ein Selbstmord vorkommt.

Thomas Macho, Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne
Berlin: Suhrkamp Verlag 2017, 532 Seiten, 28,80 €, ISBN 978-3-518-42598-5

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Thomas Macho, Das Leben nehmen
Wikipedia: Thomas Macho

 

Helmuth Schönauer, 13-12-2018

Bibliographie

AutorIn

Thomas Macho

Buchtitel

Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Suhrkamp Verlag

Seitenzahl

532

Preis in EUR

28,80

ISBN

978-3-518-42598-5

Kurzbiographie AutorIn

Thomas Macho, geb. 1952, lebt in Wien.