Timo Brandt, Nicht nochmal Legenden

timo brandt, nicht nochmal legendenGedichte sind wie Pflanzen, die einen Nährboden brauchen, auch wenn sie mit Luftwurzeln arbeiten. Diese Nähr-Substanz kann die vorgespielte Erfahrung eines Ichs sein, eine didaktische Zusammenfassung eines Erkenntnisprozesses oder auch das Verwerten ausgestreuter Literaturpartikel.

Timo Brandt weist mit seinem Seufzer „Nicht nochmal Legenden“ darauf hin, dass er sich vor allem mit vorgelagertem Lyrikmaterial beschäftigt, wenn er daraus durch Zitat, Verformung oder Überhöhung neues Extrakt presst.

„In der Unordnung Segmente“ (5) nennt der Autor den ersten Abschnitt und knüpft an die Unordnung an, wie sie bei der Erschaffung der Welt geherrscht hat. Statt um die biblische Siebentage-Woche geht es freilich um kleine Momente, entscheidende Weichenstellungen oder um gewöhnliche Zeitabschnitte, die in die Ahle des Gedichte-Nähens eingefädelt werden müssen.

Fädel // Faden Tagtraum hängt noch / im Blitzlicht der Alltagssilben. / Staunst vor leeren Figuren / und spürst ihre harten Lippen, / die hinabführen, auswerfen. / Frage nicht, was der Sinn, / nicht, was Bleiben verunsichert. (6)

„Ein Zyklus“ (37) berichtet von der Schwierigkeit, Literatur aufzuzeichnen und abzulegen. In sogenannten Aktenversuchen (38) wird ausgetestet, wie wesentliche Thesen der Logik aus ihrem kausalen Zusammenhang gerissen und in einen Zyklus verwandelt werden können. Nicht alle Gedanken lassen sich aber lochen und ablegen, der Satz, „alle Kreter lügen“, der seit den Griechen als Musterbeispiel einer Conclusio herhalten muss, wehrt sich, zu den Akten genommen zu werden. „Ein weißes Blatt Papier / in einer Akte. / Ein Zeichen der Aufgabe.“ (43) Die Gedichte greifen zwar ineinander über, lassen sich aber nicht chronologisch hintereinander legen. Der Zyklus springt daher einem Vulkan gleich aus den Seiten und reißt dabei angedockte Verse mit. Für die Lektüre empfiehlt es sich, die Eruption einen Augenblick lang zu genießen und dann abkühlen zu lassen, um die einzelnen Schichten dieses Rhizom-ähnlichen Gebildes zu dechiffrieren.

„Nicht nochmal Legenden“ (45) fußt auf den Seufzer, dass Geschichten nicht lyrisch nacherzählt werden können. Zwar steckt in den einzelnen Gedichten durchwegs dramatisches Material, aber Gedichte entledigen sich einer Handlung wie Schmetterlinge aus dem Kokon schlüpfen. Drei literarische Überschriften „Wien bimmelt“ (50), „Kafkas Anrufbeantworter“ (57) „Die 32 Schimmelarten des Joseph Brodsky“ (69) lösen zuerst Legenden aus, wie sie vielleicht vor Jahren einmal erzählt worden sind, jetzt aber verdichtet sich der Stoff zu Texten, die durch das lyrische Maß bestimmt sind und jegliche Handlung unterbrechen oder sprengen. Vor allem die Verknüpfung der Einsätze ergibt neue Fragestellungen: Was haben Wien, Kafka und Brodskys Schimmel miteinander zu tun? Wie reagieren sie aufeinander? Vor allem der Schimmel hinterlässt eine Spontanirritation. Ist es nun ein Pilz oder ein Pferd, das sich 32fach an den Nobelpreisträger Brodsky heranmacht?

Das lyrische Ich fasst dieses Kapitel mit einem „Stammelgedicht“ (71) zusammen.

Stammeln // für Anja Utler // Ich soll was sagen? / Ich beiße meine Zunge. / Ich soll was sagen? / Vorher beiß ich mir auf die Zunge.

Eine kluge Zusammenstellung lässt nicht nur Fragen offen, sondern nimmt diese auf in das Programm. Unter „Stillstehende Wünsche“ (73) sind Pläne aufgezeichnet, die sich verzogen haben, verlorengegangen sind oder einfach im Froststadium überleben, wie das „Wachliegen im Jänner.“ In der „Halle der Zeit“ (80) sind die Geräusche überdimensioniert, sodass nichts widerhallt, auch wenn die Leute schreien und verzweifeln. Wer durch diese Hallen geht, glaubt sich selbst zu hören, wenn alles schreit, stöhnt, lacht oder weint.

Oktoberübersät“ (88) kommt auch das heftigste Jahr zum Erliegen. Jetzt ist es an der Zeit, im Bett zu liegen und an Äpfel zu denken, an Küsse vielleicht. „Ich bin ein vor dem Herbst umgefallener Apfelbaum, küsse den Boden im Liegen.

Der letzte Wunsch ist rätselhaft wie eine Legende und handelt „von weißen Tellern“ (89). Das lyrische Ich sitzt in einem amerikanischen Diner und betrachtet eine Frau, die einen Zauberwürfel dreht. Jetzt ist es Zeit für eine Bestellung. Gabel, Löffel und Messer kommen. Aber das Essen ist irgendwie schon gelaufen, denn das lyrische Ich sitzt bereits in einem Diner im Kopf: „Wer wartet nicht auf das, was er bestellt hat. / Wer gibt nach, wenn er doch glaubt, was er / gesprochen, // an das, was sich / versprach.“ Die Dinge vom Diner haben die Herrschaft übernommen, der eigene Wille bleibt herrenlos.

Timo Brandt hat in vier Schritten das Legenden-Material gesichtet, geordnet und gereizt. Jetzt liegen die aufgeladenen Partikel vor dem Leser, bereit, sich dessen Ordnung zu fügen.

Timo Brandt, Nicht nochmal Legenden. Gedichte, hg. von Helwig Brunner
Graz: Edition Keiper 2020 (= keiper lyrik 23), 93 Seiten, 16,50 €, ISBN 978-3-903322-16-5

 

Weiterführende Links:
Edition Keiper: Timo Brandt, Nicht nochmal Legenden
Wikipedia: Timo Brandt

 

Helmuth Schönauer, 20-08-2021

Bibliographie

AutorIn

Timo Brandt

Buchtitel

Nicht nochmal Legenden. Gedichte

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2020

Verlag

Edition Keiper

Herausgeber

Helwig Brunner

Seitenzahl

93

Preis in EUR

16,50

ISBN

978-3-903322-16-5

Kurzbiographie AutorIn

Timo Brandt, geb. 1992 in Düsseldorf, lebt in Wien.