Saul Friedländer u.a., Ein Verbrechen ohne Namen
„Das postkoloniale Denken versucht zu beweisen, dass die Vernichtung des europäischen Judentums ein Genozid wie jeder andere war, nämlich ein Töten aus konkreten praktischen Überlegungen. Daher versuchen die postkolonialen Theoretiker möglichst oft die Worte »Kolonialismus« oder »Imperialismus« zu verwenden, wenn sie das Schicksal der Juden Europas beschreiben …“ (S. 23)
Während beim Historikerstreit der Jahre 1986/87 in der deutschen Geschichtswissenschaft der Verwurf der Relativierung des Holocaust durch konservative Historiker im Mittelpunkt der Diskussion gestanden hat, trifft der Vorwurf der Relativierung der NS-Verbrechen in der jüngsten Debatte vor allem linke Theoretiker, die den Holocaust im Kontext des Kolonialismus und kolonialer Gewalt betrachtet wissen wollen.
Im einleitenden Text von Jürgen Habermas „Statt eines Vorworts“ weist der Autor auf die Unterschiede zwischen dem „Historikerstreit“ und der gegenwärtigen Kontroverse, in denen auf die Vergleichbarkeit der kolonialen Verbrechen der Deutschen an den Namas und Hereros in Südafrika hingewiesen wird, die dem Holocaust vorausgegangen sind. Dieser These stellte Habermas die spezifischen Züge des Holocaust gegenüber.
Saul Friedländer hebt in seinem Aufsatz „Ein Genozid wie jeder andere?“ anhand zahlreicher Daten und Fakten die historische Besonderheit des Holocaust hervor und widmet sich anschließend der Diskussion über den Holocaust als koloniales Projekt, die heute von zahlreichen Vertretern des Postkolonialismus geäußert wird.
In seinem Aufsatz „Deutsche Vergangenheit und postkoloniale Katechese“ geht Norbert Frei auf den Vorwurf des australischen Historikers Dirk Moses ein, dass Linke und Liberale den Holocaust als Zivilisationsbruch und „heiliges Traum“ für das politische Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland verordnet hätten, um von den „amerikanischen, britischen und israelischen Eliten“ akzeptiert zu werden. Damit einher ginge der Vorwurf, dass damit von den kolonialen Verbrechen der Vergangenheit abgelenkt werden solle. Frei stellt dieser Behauptung eine kurze Geschichte der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen in der deutschen Nachkriegsgeschichte gegenüber.
Sybille Steinbacher versucht in ihrem Beitrag „Über Holocaustvergleiche und Kontinuitäten kolonialer Gewalt“ dem Vorwurf entgegenzutreten, dass mit der Betonung des Holocaust koloniale Verbrechen ausgeblendet worden sind. Demgegenüber stellt Steinbacher Verweise auf die vergleichende Genozidforschung als interdisziplinäres Fachgebiet und zeigt die unübersehbaren strukturellen Besonderheiten des Holocaust auf.
Dan Diner setzt sich in seinem Essay „Über kognitives Entsetzen“ mit dem juristischen Problem der Behandlung von Völkermorden auseinander und der schon 1939 gestellten Frage „… wie sein könne, dass Massenverbrechen an national, ethnisch, rassisch oder religiös markierten Kollektiven straflos blieben, während individuelle Tötungsdelikte generell verfolgt werden.“ (S. 72) Diner vertritt dazu die Meinung, dass kollektive Massenverbrecher eine Transformation erleben, weg vom spezifischen Charakter des Verbrechens und hin zu Vorstellungen spezifischer Gruppenzugehörigkeit.
In der kleinen Aufsatzsammlung „Ein Verbrechen ohne Namen“ treten bekannte Historiker dem Versuch entgegen, den Holocaust zu relativieren und als Teil anderer Genozide der europäischen Kolonialpolitik zu betrachten. Detailliert wird auf die historischen und strukturellen Besonderheiten verwiesen, die dem Holocaust die spezifische Dimension eines bis dahin nichtgekannten Zivilisationsbruchs geben.
Saul Friedländer / Norbert Frei / Sybille Steinbacher / Dan Diner / Jürgen Habermas, Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust
München: C. H. Beck Verlag 2022, 94 Seiten, 12,40 €, ISBN 978-3-406-78449-1
Weiterführende Links:
C.H. Beck Verlag: Ein Verbrechen ohne Namen
Wikipedia: Saul Friedländer
Wikipedia: Norbert Frei
Wikipedia: Sybille Steinbacher
Wikipedia: Dan Diner
Wikipedia: Jürgen Habermas
Andreas Markt-Huter, 31-03-2022