Kathleen Stock, Material Girls
„In diesem Buch geht es um Geschlecht und diese mysteriöse Sache, die als Gender bekannt ist. Es handelt davon, wie im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts – recht überraschend – eine philosophische Theorie über etwas namens gender identity, »Geschlechtsidentität«, das öffentliche Bewusstsein ergriff, die britischen und internationalen Institutionen erheblich beeinflusste sowie Proteste und sogar Gewalt hervorrief.“ (S. 7)
Kathleen Stock, die als Professorin an der englischen Universität Sussex unterrichtet hat und selbst Opfer transaktivistischer Anfeindungen geworden ist, analysiert die unterschiedlichen Theorien, in denen das Geschlecht eines Menschen als eine Frage der Geschlechtsidentität verstanden wird. Dabei geht sie systematisch der Geschichte und Widersprüche dieser Theorien nach und zeigt die negativen Auswirkungen vor allem für Frauen auf.
Im ersten Kapitel „Eine kurze Geschichte der Geschlechtsidentität“ werden zunächst die „zentralen Axiome des modernen Transaktivismus“ vorgestellt, die im weiteren Verlauf kritisch überprüft und hinterfragt werden sollen. Deren Quintessenz lautet, dass die Existenz von Transmenschen moralisch dazu verpflichte, „nicht das biologische Geschlecht, sondern die Geschlechtsidentität anzuerkennen und rechtlich zu schützen“ (S. 19).
In einem kurzen Rückblick des Aufstiegs der Theorie der Geschlechtsidentität werden verschiedene Thesen vorgestellt, wie Simone de Beauvoirs Aussage „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“, John Moneys und Robert Stollers Konzept der „Geschlechtsidentität“, Anne Fausto-Sterlings These des biologischen Geschlechts als „Kontinuum“, Judith Butlers Auffassung Geschlecht sei eine Performance oder Julia Seranos Behauptung, dass die Geschlechtsidentität das Wesen Mann und Frau ausmache. Eine Folge dieser Theorien ist es, dass mittlerweile eine Flut an unterschiedlichen Identitäten von verschiedenen Gruppen in Anspruch genommen werden.
Weitere Themenschwerpunkte setzen sich mit den Fragen „Was ist Geschlecht?“, „Warum ist Geschlecht wichtig?“ und „Was ist Geschlechtsidentität auseinander, die für viele mit der Thematik wenig vertraute Leserinnen und Leser zunächst merkwürdig erscheinen werden. Aber auch die seltsame Frage „Was ist eine Frau?“ erhält im Kontext der gegenwärtigen Diskussion eine neue zentrale Bedeutung, die sich selbst in der Gesetzgebung mancher Staaten niederschlägt.
Am Ende des Buches geht die Autorin auf die möglichen psychologischen und soziologischen Ursachen dieses radikalen Wandels im Verständnis der Geschlechter ein und zeigt die Gefahren des radikalen Aktivismus im Bereich der Geschlechtsidentität vor allem für Frauen auf.
Kathleen Stock analysiert minutiös und verständlich die unterschiedlichsten, sich mitunter widersprechenden Aussagen und Thesen verschiedenster Gruppen sowie Denkerinnen und Denker, die sich dafür einsetzen, im öffentlichen Leben das Geschlecht durch Geschlechtsidentität zu ersetzen. Dabei weist sie deutlich auf zahlreiche Denkfehler in deren Argumentation hin und zeigt die Gefahren dieser gesellschaftlichen Entwicklung auf, die vor allem junge Menschen in ihrer Entwicklung und Frauen ganz besonders betreffen.
Ein überaus empfehlenswertes Sachbuch, das tiefe Einblicke in eine gesellschaftliche Diskussion der Gegenwart bietet, die sich immer mehr vom Randbereich in die Mitte der Gesellschaft bewegt und sich zunehmend auch in der Gesetzgebung niederzuschlagen beginnt.
Kathleen Stock, Material Girls. Warum die Wirklichkeit für den Feminismus unerlässlich ist, übers. v. Vojin Saša Vukadinović [Orig. Titel: Material Girls: Why Reality Matters for Feminism]
Berlin: Edition Tiamat 2022, 384 Seiten, 26,80 €, ISBN 978-3-89320-289-8
Weiterführende Links:
Edition Tiamat: Kathleen Stock, Material Girls
Wikipedia: Kathleen Stock
Andreas Markt-Huter, 20-04-2022