Stanislav Struhar, Farben der Gegenwart

stanislav struhar, farben der gegenwartFarben verhalten sich in der Literatur geradezu paradox: Je genauer sie beschrieben sind, umso mehr treten sie aus dem Erzählten hinaus, und umgekehrt machen sie eine Stimmung klar, indem man ihnen eine bestimmte Farbe gibt.

Stanislav Struhar ist bereits ein Leben lang unterwegs auf der Suche nach seinen Farben. Migration, Verlust von Angehörigen, Systemwechsel, Heimatwechsel, Sprachwechsel, all diese Veränderungen haben ihn auf die Spur der Farben gebracht, denn diese vermögen, einmal zum Klingen gebracht, sich über alle kleinteiligen Eingrenzungen hinwegzusetzen. Die Farben sind in seinem Falle verlässliche Botenstoffe für Emotionen, Sehnsüchte, Stimmungslagen.

Der „Farbenkosmos“ des Stanislav Struhar ist mittlerweile in einer Dissertation von Gabriela Šilhavá aufgearbeitet, deren Hauptthesen in einem erwärmenden Nachwort jenen drei Geschichten beigefügt sind, die zusammen die Farben der Gegenwart ausmachen.

„Die vertrauten Farben der Fremde“ (7) zeigen den 25-jährigen Florian, der nach längerer Zeit wieder nach Marseille fährt, um die Spur zu seiner Familiengeschichte aufzunehmen. Seine Tante gibt ihm Quartier und bereitet ihre nächste Reise vor. Sie erzählt neue Facetten der Verwandtschaft und ist eine seltsame Brücke zu Florians Vater, denn zwischen Vater und Sohn ist das Verhältnis ziemlich abgekühlt. Der Garten bringt nach wenigen Augenblicken die Vergangenheit als Kindheitsparadies aus Farben und Gerüchen zum Vorschein. In diese melancholische Stimmung passt auch die Begegnung mit einer ehemaligen Freundin, die seltsam pastös erscheint, indem sich das Bild von früher mit jenem von jetzt überlagert, die Vergangenheit fungiert als Weichzeichner der Gegenwart.

Überhaupt geschieht alles in einem Ruckeln aus Standbildern, die in sich abgeschlossen sind. „Er stieg aus, und der Busfahrer machte die Tür zu, der Bus setzte sich in Bewegung, entfernte sich träge.“ (25) Diese einzelnen Bilder fangen ganze Empfindungsketten ein, sodass etwa der bloße Anblick einer Statue den Helden zuerst amorph traurig macht, während gleichzeitig diese Traurigkeit auf konkrete Augenblicke, Eindrücke und Begegnungen überspringt. Wegen der Statue wird der Held traurig, aber umgekehrt bietet sie ihm Anlass, an dieser Emotion zu arbeiten, ohne jemandem zu schaden.

Die „Statuen-Therapie“ wird dann gleich notwendig, als die Nachricht vom Tod des Vaters kommt. Eine SMS eines Freundes, wonach sich jemand nach dem Friedhof erkundigt, auf dem die Bestattung stattfinden soll, löst eine komplizierte Informationskette aus. So kompliziert, wie einst der Kontakt zum Vater gewesen ist, gestaltet sich jetzt auch die Nachricht von seinem Tod.

Die Farben der Gärten und Gassen in Marseille flunkern indes ungebrochen weiter und lassen sich auch von Florians Trauer nicht beeindrucken. Wie überhaupt die Farben dauerhafter und verlässlicher sind als die Stimmungen, die sie auslösen. An die Farben musst du dich halten, lautet so eine These des Autors, denn auf sie ist überall Verlass, egal wo du geboren und wohin du später ausgereist bist.

„Die Leichtigkeit der Farben“ (49) nennt sich die zweite Geschichte, in der wieder alle Beteiligten unterwegs sind. Adam ist seinerzeit aus Prag geflohen, weil er dem Druck seiner Familie ausweichen wollte, die ihm die Arbeitslosigkeit übelgenommen hat. Jetzt flaniert er in seiner freien Zeit durch die bunten Teile von Wien, die ihn an Prag erinnern. Parks, Schloss Neuwaldegg und helles Licht in der Wohnung einer Freundin begleiten ihn. Er ist in einem Kaufhaus untergekommen und verkauft Herrenmode, beim Spazieren hat er zuerst den Hund Theo und später die junge Heidrun kennengelernt, die seine Seelenfreundin wird.

Alle Personen, die in der Folge auftreten, bedient werden oder sich bedienen lassen, sind Ausgezogene, Umgezogene, Fehlverzogene. Hinter jedem Menschen dieser Stadt Wien tut sich eine Migrationsgeschichte auf, und an manchen Tagen sagen selbst Zugezogene süffisant, sie hätten noch nie einen Österreicher gesehen. Diesen freilich sagt man eine ungute Reserviertheit gegenüber allem Weltoffenen nach, aber man kann es nicht überprüfen, weil sie ja als Österreicher nicht in Erscheinung treten.

Der Held dieser „Leichtigkeit der Farben“ ist der blinde Hund Theo. Er ist ein Beispiel für dieses Leben in vielen Heimaten, denn er sieht überall hinter seinen erblindeten Augen nur das Schöne in seinem Hundeleben, und es macht ihm auch nichts aus, wenn er das ordinäre Grün des Rasens nicht sehen muss.

Obwohl die weite Welt Einzug gehalten hat in der großen Stadt, wird es dann doch sehr eng, wenn es familiär wird. Der Großvater der Geliebten hat es nicht gern, wenn Adam bei ihr übernachtet, andererseits schläft dieser gerne auf ihrer Couch ein und lässt sich erst am Morgen wecken. Und dann stirbt der Großvater jäh in seinem Garten, und in der Trauer sehen alle, dass ein Stück Vergangenheit unwiederbringlich verloren ist. Das Liebespaar versucht aus der Erinnerung zu retten, was zu retten ist. Vielleicht kann man das alte Prag in Erinnerung halten, indem man seine Dichter liest, Kafka, Werfel, Rilke. Vielleicht aber genügt es für einen Gleichklang der Farben, wenn man die einzelnen Blumen des Gartens ins Tschechische übersetzt, umweht vom Hauch der Liebe.

Dieses Übersetzen spielt in der dritten Geschichte die Hauptrolle. „All die geliebten Farben“ (124) ist eine skizzenhaft angelegte Wien-Geschichte, die der Autor einst auf Tschechisch geschrieben hat und jetzt mit seinem Sohn gleichen Namens ins deutsche übersetzt. Diese Übersetzung zeigt, dass die beiden zumindest in der Sprache „angekommen“ sind, wenngleich eine seltsame Unruhe dabei ist, wie bei den Helden der Geschichte, die im fotografischen Milieu spielt. Ein Foto ist nicht an die Sprache gebunden, heißt es manchmal, sodass der Fotograf überall verstanden wird. Aber die Bilder sagen nichts aus über die Unruhe, die diese Künstler umtreibt. Der Ich-Erzähler kommt von einer Ausstellung aus dem Ausland zurück, und fühlt sich missverstanden in Wien, ein anderer Fotokünstler versucht gerade in dieser Stadt Fuß zu fassen, muss aber einsehen, dass er in seiner Heimatstadt Salzburg besser aufgehoben ist. Auf der Suche nach den richtigen Farben des Lebens sind es gerade die Künstler, die unruhig unterwegs sind, auf der Suche nach dem Licht.

Stanislav Struhars Geschichten haben eine ähnliche Wirkung wie die eingangs angesprochenen Farben, in paradoxer Weise werden sie umso kontemplativer, je unruhiger darin die Helden unterwegs sind!

Stanislav Struhar, Farben der Gegenwart. Erzählungen, mit einem Nachwort von Gabriela Šilhavá
Klagenfurt: Wieser Verlag 2022, 158 Seiten, 21,00 €, ISBN 978-3-99029-526-7

 

Weiterführende Links:
Wieser Verlag: Stanislav Struhar, Farben der Gegenwart
Wikipedia: Stanislav Struhar

 

Helmuth Schönauer, 31-03-2022

Bibliographie

AutorIn

Stanislav Struhar

Buchtitel

Farben der Gegenwart

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Wieser Verlag

Seitenzahl

158

Preis in EUR

21,00

ISBN

978-3-99029-526-7

Kurzbiographie AutorIn

Stanislav Struhar, geb. 1964 in Gottwaldov (Zlin), lebt in Wien.