Sheldon S. Wolin, Umgekehrter Totalitarismus

sheldon wolin, umgekehrter totalitarismus„Aufgrund des hochgradig organisierten Strebens nach technologische Innovation und der dadurch begünstigten Kultur findet der Wandel heute schneller statt, ist umfassender und willkommener als je zuvor – was bedeutet, dass Institutionen, Wertungen und Erwartungen gemeinsam mit der Technologie nurmehr eine begrenzte Haltbarkeit zukommt. Wir erleben den Triumph der reinen Gegenwart und ihres Komplizen: des Vergessens bzw. der kollektiven Amnesie.“ (S. 57)

In seiner Analyse der amerikanischen und westlicher Gesellschaften prägt Wolin den Begriff „umgekehrter Totalitarismus“. Dabei wird diese Form des politischen Systems der zunehmenden Ent-Demokratisierung der Gesellschaft von Machthabern und Bürgern meist unbewusst forciert, ohne sich dabei explizit an ideologischen Konzepten zu orientieren.

Ziel seiner Untersuchungen ist es, herauszufinden, wie sich eine Demokratie in ein „nicht-demokratisches oder antidemokratisches System verwandelt.“ (S. 59) Früher habe die Annahme vorgeherrscht hat, dass die große Freiheit in einer Demokratie von Diktatoren oder Tyrannen genutzt werden könne, um die Demokratie zu stürzen. Wolin geht in seinem Buch jedoch einer anderen Gefahr nach, dass Bürger immer mehr zu Konsumenten erzogen werden, die „Veränderungen und private Vergnügungen“ begrüßen und „politische Passivität“ akzeptieren (S. 63). Diese Tendenz wird durch eine immer engere Verbindung und Partnerschaft zwischen dem Staat, Unternehmen und Formen der Macht, wie z.B. Kirchen sukzessive gefördert und verstärkt.

Dabei zieht Wolin immer wieder Vergleiche zwischen westlichen Demokratien der Gegenwart, im speziellen in den USA, und den großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts in Mussolinis Italien, Hitlers Deutschland und der Sowjetunion Stalins. Neben grundlegenden Unterschieden wird dabei auch auf überraschende Ähnlichkeiten hingewiesen, zu denen Totalitarismus und „umgekehrter Totalitarismus“ führen können.

Im Kapitel „Ein Mythos entsteht“ wird der Terroranschlag am 9.11.2001 als politische Zäsur ausgemacht, mit der die USA einen permanenten globalen Krieg startet, mit dem Anspruch, als alleinige Supermacht eine globale Dominanz zu beanspruchen, der in der Globalisierung ihren Ausdruck gefunden hat. Während die Staatsmacht in seiner Außenpolitik autoritär auftritt, gelingt es, das System im Inneren mit Hilfe der Medien und psychologischer Manipulation das Erscheinungsbild der Demokratie aufrecht zu erhalten. Wolin betont, dass der schleichende Abbau an Demokratie und demokratischer Beteiligung der Bürger an der Politik durch keinen vorgefasster Plan im Hintergrund verwirklicht wird, sondern durch die Unachtsamkeit auf die Folgen der einzelnen Handlungen und Manipulationen.

Sheldon Wolin gelingt es am Beispiel der Entwicklung der Demokratie in den USA aufzuzeigen, wie militärisches Machtstreben, Kriege und die enge Verbindung zwischen Wirtschaft und Staatsmacht die Demokratie schleichend aushöhlt und die politischen Entscheidungsprozesse der Bürger nur mehr in festgelegten Bahnen zugelassen werden. Dabei kommt auch der steigenden Kluft zwischen Reich und Arm eine zentrale Rolle zu, wenn wirtschaftliche Macht sich mit politischer Macht verbinden kann.

Wolins kritische Analyse über den Einfluss von Macht auf Demokratie setzt sich zwar speziell mit den Verhältnissen in den USA der Zeit der Bush Regierung auseinander, hat aber auch für die heutige Zeit nichts an seiner Gültigkeit verloren, wie sich an der zunehmenden politischen Verdrossenheit großer Teiler der Bürgerschaft erkennen lässt. Ein überaus wichtiges Sachbuch, das tiefe Einblicke in die Demokratie unserer Gegenwart offenlegt und zum politischen Bewusstsein wachruft.

Sheldon S. Wolin, Umgekehrter Totalitarismus. Faktische Machtverhältnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie, mit einer Einführung von Rainer Mausfeld, übers. v. Julien Karim Akerma [Orig. Titel: Democracy Incorporated - Managed Democracy and the Specter of Inverted Totalitarianism]
Frankfurt a. Main: Westend Verlag 2022, 464 Seiten, 37,10 €, ISBN 978-3-86489-348-3

 

Weiterführende Links:
Westend Verlag: Sheldon S. Wolin, Umgekehrter Totalitarismus
Wikipedia: Sheldon Wolin

 

Andreas Markt-Huter, 24-08-2022

Bibliographie

AutorIn

Sheldon S. Wolin

Buchtitel

Umgekehrter Totalitarismus. Faktische Machtverhältnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie

Originaltitel

Democracy Incorporated - Managed Democracy and the Specter of Inverted Totalitarianism

Erscheinungsort

Frankfurt a. Main

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Westend Verlag

Übersetzung

Julien Karim Akerma

Seitenzahl

464

Preis in EUR

34,10

ISBN

978-3-86489-348-3

Kurzbiographie AutorIn

Sheldon S. Wolin, 1922-2015, Demokratietheoretiker und Politikwissenschaftler, lehrte u. a. an der University of Oxford und Princeton University und prägte den Begriff eines „Umgekehrten Totalitarismus“. Seit der Veröffentlichung des Buches Politics and Vision: Continuity and Innovation in Western Political Thought 1960 hatte Wolin großen Einfluss auf die kritische Linke in den Vereinigten Staaten.