Oskar Aichinger, Ich steig in den Zug und setz mich ans Fenster

oskar aichinger, ich stieg in den zug und setzte mich ans fensterDie Eisenbahn ist nur so nebenher ein Transportmittel, eigentlich ist sie seit fast 200 Jahren ein Stück Kultur, staatstragend wie die Oper, unvergesslich wie die Nationalbibliothek, aufregend wie die Bundeshymne.

Oskar Aichinger weiß um die Magie der Eisenbahn, weshalb er ein erzählendes Ich, das ungeschminkt zu ihm hält, in einen Zug steigen lässt und am Fenster platziert. Ausgangspunkte der ÖBB-Reisen sind zum einen die Kindheit in Oberösterreich, zum anderen Wien als Drehscheibe, von der aus sich die Lokomotiven über die Schienenstränge der Republik hermachen.

Das Zentrum der Kindheit auf Schienen liegt in Attnang-Puchheim, einem Doppelort, der gar keiner ist, weil er wirklich seinen Bindestrich in den Adern trägt. Am Bahnsteig wird der Ort in den Durchsagen jeweils doppelt ausgesprochen wird, um keine Ortssilbe zu kränken. Am ehesten ist dieses Attnang-Puchheim / Attnang-Puchheim mit dem Gendern in der Gegenwart zu vergleichen, wo ja auch alles doppelt genannt wird aus Angst, etwas zu vergessen.

Durch den Schienenknoten für den Regionalverkehr rauschen in den 1950ern plötzlich sagenhafte Züge wie der Transalpin und geben den Bewohnern erstmals in der Nachkriegszeit das Gefühl, dass Österreich jetzt international unterwegs ist.

Andererseits bietet der Ort auch herrliche Sonntagsausflüge, ob es nun ins Braunkohle-Revier Ampflwang geht, in die fleischigen Teile rund ums Rieder Innviertl, oder ins Salzkammergut, wo nicht nur der Kaiser stets hochgehalten wird, sondern wo es 1963 auch zu einem mittlerweile längst vergessenen Attentat kommt. 1963 verüben italienische Neofaschisten in Ebensee einen Anschlag auf die Feuerkogelbahn, als Rache für die Attentate der Bummser in Südtirol. Freilich kommt am Feuerkobel eine Person ums Leben, das wird aber auf gut österreichisch vergessen und verdrängt, weil es unangenehm ist, dass die Knallerei in Südtirol nun indirekt doch ein Opfer gefordert hat.

Der Reiseblick ändert sich mit der biographischen Weiterentwicklung, Zugfahren passt für alle Lebensphasen, denn man nimmt immer das wahr, was gerade zum eigenen Leben passt. Eine Fahrt ins animalische Innviertel lässt Erinnerungen an Franz Xaver Kroetz aufkommen, er gilt als Meister des Volksstücks in der perversen Fläche. (49) Das echte Volksstück findet nämlich am Vierkanthof statt und nicht, wie die Tiroler glauben, an der Talstation einer Felix-Seilbahn.

Je besser die Strecken durch das weite Oberösterreich ausgebaut werden, umso mehr zieht sich das Volksstück zurück. Denn dieses Genre braucht eine gewisse Bedächtigkeit, und die ÖBB sind mittlerweile ein Unternehmen, das mit Railjets im Stundentakt das Land umkrempelt.

Die Gegenwart des Fensterhockers wird ab nun vom neuen Wiener Hauptbahnhof aus bestritten. Bei jeder Abfahrt gibt es ein melancholisches Gedenken an die alten Bahnhofsrestaurationen, die vor allem am Wiener Westbahnhof und in Linz zum Nationalen Kulturerbe ausgerufen waren.

Die Wahrnehmungen eines Fensterhockers sind dreigeteilt, einmal betreffen sie Betriebsgeräusche, wie etwa das Singen der Taurus-Lokomotive nach harmonischen Tonleitern (116), dann betreffen sie historische Flashes, die jäh in der Landschaft oder an einem Grenzbahnhof aufblitzen wie jene Szene, wo Frank Kafka plötzlich einen neuen Pass braucht, um seine Geliebte Milena in Gmünd für ein Wochenende zu treffen. (184)

Und der dritte Teil der Wahrnehmung ist nach innen gerichtet, wenn Fahrgäste zu riechen, telefonieren oder zu grölen beginnen. Besonders unangenehm fallen Fans auf, die zu Fußballspielen nach Innsbruck unterwegs sind. (194) Es ist pure Aggression, die gegenüber dem Reiseziel entwickelt wird, wobei nicht geklärt ist, wer ein noch mieseres Image hat: die Stadt Innsbruck selbst oder der Fußball, der in dieser föhnverwehten Stadt gespielt wird.

Der Untertitel gibt Auskunft über diese Lebenshaltung des Schauens, Denkens und Wien-Verlassens. Die Eisenbahn bietet sich nicht nur als Strang an, an dem man die Gedanken ausrichten kann, die ständige Bewegung des Erzählstandpunkts verschafft auch dem unbeweglichsten Charakter zumindest die Illusion, dass er ein mobiler Denker sei.

Fast alles an der Eisenbahn ist mittlerweile digitalisiert, von der Zugsteuerung über die Platzreservierung bis hin zur Streckennetz-Darstellung.

Geblieben ist freilich das analoge Momentum, wenn ein Körper sich ans Fenster hievt und quer über das Land gezogen wird.

Es ist fast schon ein Paradoxon, dass die Passagierzahlen in jenem Ausmaß steigen, indem die Welt sich auf dem Display als Map verkleinert.

Oskar Aichingers Entwurf über Österreich ist weniger eine Reise, als vielmehr eine Denkmethode.

Oskar Aichinger, Ich steig in den Zug und setz mich ans Fenster. Vom Schauen, Denken und Wien-Verlassen
Wien: Picus Verlag 2022, 192 Seiten, 22,00 €, ISBN 978-3-7117-2127-3

 

Weiterführende Links:
Picus Verlag 2022: Oskar Aichinger, Ich steig in den Zug und setz mich ans Fenster
Wikipedia: Oskar Aichinger

 

Helmuth Schönauer, 20-09-2022

Bibliographie

AutorIn

Oskar Aichinger

Buchtitel

Ich steig in den Zug und setz mich ans Fenster. Vom Schauen, Denken und Wien-Verlassen

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Picus Verlag

Seitenzahl

192

Preis in EUR

22,00

ISBN

978-3-7117-2127-3

Kurzbiographie AutorIn

Oskar Aichinger, geb. 1956 in Vöcklabruck, lebt in Wien.