Jesse Ball, Zensus

jesse ball, zensusWarum ausgerechnet ich? – Quer durch die Jahrhunderte gibt es diese Schicksalsfrage, die das Individuum an eine anonyme Menge stellt, wenn es darum geht, einer besondere Anforderung zu entsprechen, etwas auszuhalten oder eine Barriere zu überwinden.

In der Literatur wird dieses extravagante Schicksal mehr oder weniger plausibel erzählt, in der Soziologie begnügt man sich schon damit, es ausfindig zu machen und zu dokumentieren.

Als besondere Form der „Zählung“ wird dabei der Zensus herangezogen, wobei beispielhaft Einzelschicksale hochgerechnet werden zu einem gesellschaftlichen Allgemeinzustand. In der Vogelkunde wird zu diesem Zweck die sogenannte Beringung herangezogen, indem jedes Exemplar haptisch markiert wird.

In einer brutalen Analogie zur „Nummerierung“ der Opfer in den Vernichtungslagern der Nazis wird das Tattoo seither als Markierung zwar geächtet, als Identifikationszeichen für gewisse Gruppen aber durchaus weiterhin verwendet.

Um all dieses Markieren, Aussondern, Vernichten und Überleben geht es im Roman mit dem verräterisch-schlichten Titel „Zensus“.

Jesse Ball stellt seinem Roman einen strikten autobiographischen Kommentar voran: Vor zwanzig Jahren starb sein Bruder Abram mit 24 Jahren, er hatte das Down-Syndrom und war an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Seither ringt der Autor um eine passable Form, von diesem Bruder zu erzählen, dessen Leben scheinbar abgeschlossen ist, sich jedoch stets in voller Kraft ins Bewusstsein drängt, um es „richtig zu erzählen“.

Von diesem Drang angeleitet entwickelt der Autor einen Plot, wonach ein Ich-Erzähler die medizinische Diagnose „unheilbar“ erhält und mit seinem erwachsenen Sohn noch einmal durch das Land fährt, um ihm das Land zu zeigen, „das größer ist, als man glaubt“. (188)

Der Ich-Erzähler übernimmt die Vaterrolle, und enträtselt seinen Sohn allmählich während seiner Tour. Die beiden rollen eine persönliche Methode aus, mit sich selbst den Zensus durchzuführen, das heißt, diverse Überlebenseigenschaften und -gegebenheiten ausfindig zu machen und zu notieren.

Der Zensus entwickelt sich dabei als die Ur-Methode der Literatur, wird doch das Wirkliche in Begriffe gefasst und einer Erzählordnung unterworfen. Der Zensus-Abwickler benimmt sich dabei am ehesten wie ein Soziologe oder Therapeut, bei Franz Kafka war er noch ein Landvermesser mit geographischem Messwerkzeug. Und nicht vergessen werden darf, dass es sich beim Rezensenten jeglicher Art ebenfalls um einen versteckten Zensus-Beobachter handelt.

Der Ich-Held ist Arzt und darf daher an Menschen Eingriffe vornehmen. Er mausert sich zum idealen Überland-Zähler, weil er nach der Zensuserhebung die abgefragten Personen mit einer kleinen Tätowierung als gezählt markieren darf. Dieses Zählen hat auch eine erotische Komponente: „Sie knüpft ihr Kleid auf. Ich habe noch keine Markierung von diesem Durchgang.“ (229)

Sonst gilt freilich eine gewisse Gefühlsleere als ideal. „Der Volkszähler muss nach Leere streben.“ (14) Diese Qualität erreichen speziell die Ärzte selbst, die sie von ihrem bevorstehenden Tod erfahren und die eigene Todeskrankheit einordnen und abwickeln als eine Art Zensus-Aktion.

Eingekeilt zwischen Begräbnisvorbereitungen zum eigenen Tod und der Perspektive, die der Körper im Grab liegend entwickelt, breitet sich der Roman alphabetisch aus. Meist wird das Kapitel einem Ort zugeordnet, der als Großbuchstabe in der Geographie des Alphabets Platz genommen hat.

Die Zugangsweisen sind mannigfaltig. Die Stadt D stellt sich selbst vor, macht aber dabei keinen guten Eindruck, weil ihre Selbstdarstellung nicht ehrlich ist. (49) In einer anderen Stadt stellt sich die Frage, ob man Außenseiter überhaupt zählen soll. Der Zensus-Bevollmächtigte ist unbedingt dafür, weil es letztlich nichts anderes zu zählen gibt als Außenseiter.

Jemand stellt sich tot, um nicht gezählt zu werden. (68) Das ist aber ein vergebliches Bemühen, weil die Analyse-Kraft eines Zensors durchaus auch auf die Toten wirkt.

In der Hauptsache erzählt der Arzt, aber seine indirekten Anspielungen lassen darauf schließen, dass der Sohn immer wieder entscheidende Fragen stellt und die anhängige Zensus-Ordnung hinterfragt. – Warum gibt es in manchen Städten Einsamkeit und in anderen nicht?

In einer entlegenen Stadt leben zwei Comics-Schwestern, die eine ist berühmt für ihre Strips, die andere dafür, dass sie diese mit Hingabe liest um dann zu sagen: „Ich bin die Leute, die hier leben, schon so leid!“ (105) Irgendwo ist Gewalt in der Familie im Spiel, und die Beteiligten nennen eine Watsche „eine Sache, die uns passiert“. (108)

Der Zählende trifft auf einen Beamten, der Unfälle abarbeiten muss. Heute hat er einen Glückstag, weil noch keiner passiert ist, normalerweise gibt es sechs Unfälle am Tag. Der Beamte erweist sich für Augenblicke als Unter-Zensor, der dem Hauptsensor zuarbeitet.

Wie überall auf der Welt ist auch der angesprochene Landwirt im aufgesuchten Landstrich höchst angefressen. „Landwirtschaft bedeutet: Alles geht schief!“ (189)

Offensichtlich hat der Sohn Einwände formuliert, denn der Erzähler fasst zusammen: „Die Volkszähler müssen einen völlig harmlosen Eindruck hinterlassen.“ (91)

Dennoch bleiben Zweifel.

Was ist es wert, festgehalten zu werden? (155)

Wie bei allen Vorgängen, in denen das Alphabet als Ordnungskraft eingesetzt wird, geht es auch in diesem Fall am Schluss ziemlich schnell. Drei und drei Buchstaben werden zusammengefasst, ehe es da ist, das große Z, das für Zensus und Tod steht. Der Erzähler steckt seinen Sohn an einem Bahnhof in einen Zug, der nach Westen fährt. Das ist die einzige Richtung, die in diesem End-Zustand in Frage kommt. (262)

Als der Zug weg ist, greift der Ich-Held wieder zur Schaufel, die er zu Beginn des Romans an den Text gelehnt hat, und schaufelt das Grab fertig. Allmählich „verendet sich“ die Perspektive, der Zensus wird schließlich von unten her gezählt und abgeschlossen. Das Grab liegt wie eine Markierung in der Haut der Erde.

Jesse Ball erzählt mit seiner Zensus-Methode nicht nur die Geschichte von Mainstream und Außenseiter, Vater und Sohn, Reden und Verlöschen. Mit den Antworten der Markierten lässt sich eine Geschichte des unerforschten Seelenlandes scannen mit einer Methode, die an J. J. Voskuil erinnert. Dieser berühmte niederländische Romancier hat seinerzeit die Niederlande anhand eines Gartenzwerg-Zensus erforscht und in ein siebenbändiges „Büro“ zusammengetragen, damit der Zensus überlebt. – Jesse Balls Zensus ist vielleicht etwas weniger umfangreich, in der Konsistenz aber dicht wie sieben Bände.

Jesse Ball, Zensus. Roman. A. d. Amerikan. von Raimund Alexander Lippmann. [Orig. Titel: Census, NYC 2017.]
Wien: Luftschacht Verlag 2022, 283 Seiten, 22,00 €, ISBN 978-3-903422-09-4

 

Weiterführende Links:
Luftschacht Verlag: Jesse Ball, Zensus
Wikipedia: Jesse Ball (engl.)

 

Helmuth Schönauer, 16-10-2022

Bibliographie

AutorIn

Jesse Ball

Buchtitel

Zensus

Originaltitel

Census

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Luftschacht Verlag

Übersetzung

Raimund Alexander Lippmann

Seitenzahl

283

Preis in EUR

22,00

ISBN

978-3-903422-09-4

Kurzbiographie AutorIn

Jesse Ball, geb. 1978 in Port Jefferson / New York, lebt in Chicago.

Alexander Lippmann, geb. 1978 in St. Pölten, ist Übersetzer und Autor in Wien.