Elisabeth Lexer, Fluchttiere
Der Begriff Fluchttiere sagt den Tierliebhabern etwas völlig anderes als den psychologischen Analytikern, die sich gerne strategisch verlesen und von „Fluch-Tieren“ sprechen.
Elisabeth Lexer erzählt freilich Eindeutiges: Die Tiere sind das Um und Auf, Lebensinhalt und Skala zum Messen von Veränderung und schließlich Katalysatoren in den Beziehungen des knapp bemessenen Personals. Im Unterschied zur Hauptperson Elsa, für die Tiere das Sinnbild des Lebens sind, verliert der an Tieren weniger interessierte Leser leicht den Überblick über die Herde an mehr oder weniger gezähmten Vierbeinern und registriert letztlich bloß die ständige Anwesenheit von Hunden, Katzen und Pferden.
Das eigentliche Personal besteht aus dem Dreieck aktueller Mann Adam, erinnerter Ehemann Hans und Aussteigerin Elsa, um die herum die Novelle gestaltet ist.
Die menschlichen „Fluchttiere“ Adam und Elsa kommen also in einer entlegenen Gegend an, in die von allen Seiten Berge hineindrücken. Die Witterung unterstützt das Diffusum, worin man nicht weiß: Soll man sich befreit fühlen, weil man der Welt entrückt ist, oder schwermütig, weil Tonnen von Gestein über einem hängen?
Das Aussteigerhaus scheint in Realität anders zu leuchten als im Internet, wo es ziemlich vernünftig gewirkt hat. Jetzt in echt besticht es durch schroffe Kälte, die auf langes Auskühlen sozialer Wärme hinweist.
Nachbarn sind eigentlich nicht vorgesehen, wenn man in die Entlegenheit flieht. Aber eine ältere Frau erzählt in kurzen Sätzen von der Gegend. Es ist alles verlogen hier, nichts ist so, wie es scheint. Die Städter rasen Wochenende für Wochenende mit den Motorrädern durch die Landschaft, verunfallen und werden mit den Helikoptern zurückgeflogen, wenn es die Witterung zulässt. Die gesuchte Stille zerstören sich die Städter selbst und sind enttäuscht, dass nichts so ist wie auf der Roadmap eingezeichnet.
Nach dieser Einführung in die Antiidylle kommt auch bald ein gewaltiger Sturm auf, der die Gegend elementar umkrempelt. Die Tiere sind hysterisch, die Bäume entledigen sich der eigenen Wurzeln, das Haus wird noch kälter, und die Erinnerungen an die Zeit draußen sind seltsam zerrissen wie aufgesplittete Baumstämme.
Während sich Adam und Elsa zumindest sprachlich im Chaos einzurichten versuchen, setzt sich erstaunlich manifest die Erkenntnis durch, dass beide in der eingeübten Blase von früher durch die neue Umgebung rennen und so nicht miteinander ins Gespräch kommen können.
Für Elsa geht immer wieder der „Ehestrang“ auf, eine würgende Erinnerung an ihre Ehe mit Hans. Mit ihm hat sie im Stile der Achtundsechziger eine Art „Küchentischmarxismus“ (63) entwickelt. Die Welt wurde dabei analysiert, geschnetzelt, zerkocht und anschließend aufgegessen.
Glücklicherweise hat Elsa ihren Willen durchgesetzt, keine Kinder zu bekommen. Denn genau betrachtet sind Kinder nur biographische Verkrümmungen, die den eigenen Weg verlegen.
Lange Gespräche handeln davon, ob Kinder nicht doch als Dinge aufgefasst werden sollten, um sie rein und pädagogisch wertvoll erziehen zu können. Und die unausgesprochene Behauptung liegt im Raum, ob Tiere nicht die besseren Kinder sind.
Von der Ehe ist Elsa noch in Erinnerung, dass sie immer mehr zur Außenseiterin gemacht worden ist. Zuerst hat sie sich vom Küchentisch entfremdet, dann von Hans und schließlich vom ganzen Dorf. Ein unerzogener Hund ist das beste Beispiel für diesen neuen Kurs. Untrügliches Merkmal dieser Störung: Sie musste jedes Mal fliehen, wenn Gäste gekommen sind.
Jetzt mit Adam geht es also darum, das ehemalige Eheleben zu überwinden, möglichst ohne Menschen, mit Tieren, die ihr Leben selbst gestalten können.
Die Novelle setzt dreimal an, um die Geschichte des Entfliehens vor sich selbst zu erzählen. Am Beginn greift die Geschichte mit einem Neubeginn in scheinbar unberührter Gegend aus. Im Mittelteil schlägt die alte Ehe durch, die sich im Gemäuer eines frischen Ambientes niederlassen will. Und im letzten Drittel eskaliert die Flucht zu einem psychischen Zusammenbruch.
Plötzlich ist Adam verschwunden, Elsa reagiert verstört und sucht ihn im Dickicht des Waldes. Ein Gewitter hat das Areal in eine theatralische Schlammlandschaft verwandelt, worin alle Wege als Sackgassen enden.
Als Adam verschwunden bleibt, formuliert Elsa ihre Vermisstenanzeige bei der Polizei. „Ich vermisse meinen Mann!“ (120) Dieser simple Satz lässt sich kaum aussprechen. Aber die Polizei toppt die Verwirrung. Als Elsa die Hausnummer durchgibt, von wo aus sie anruft, erwidert die Polizei, dass dieses Haus schon längst abgerissen sei und nicht mehr existiere. Ehe Elsa zusammenbricht, dämmert ihr die Erkenntnis:
Ich brauche all das, vor dem ich weggelaufen bin! (133)
Die Erlösung kommt schön wie eine Novelle ums Eck. Adam taucht auf, als wäre nichts geschehen. Er hat nur kurz den Müll weggebracht.
Elisabeth Lexer spielt gekonnt mit dem Genre der Novelle, worin ja ein trivialer Vorfall edel geklärt und rund zu Ende gebracht werden soll. (In jüngerer Zeit hat dies etwa Martin Walser mit seiner Novelle „Ein fliehendes Pferd“ [1977] vorgeführt.)
Die Figuren spielen ein Thema am eigenen Leib durch und führen es einer Erkenntnis oder Lösung zu. Dabei darf durchaus Ironie im Spiel sein. – So gedeutet ist die Novelle „Fluchttiere“ eine wunderbare Beschreibung jener Aussteiger, die das Leben unbeschwert zu planen versuchen wie einen Sonntagsausflug.
Elisabeth Lexer, Fluchttiere. Novelle, Coverbild „Dunkle Gedanken“ von Alina Kunitsyna
Oberwart: edition lex liszt 12 2022, 141 Seiten, 19,00 €, ISBN 978-3-99016-229-3
Weiterführende Links:
Edition lex liszt 12: Elisabeth Lexer, Fluchttiere
Homepage: Elisabeth Lexer
Helmuth Schönauer, 30-10-2022