Alexander Peer, Gin zu Ende, achtzehn Uhr

alexander peer, gin zu endeJe nach Gemüt, Stimmung oder Zustand der intellektuellen Datenbank bringt Lyrik bei der Rezeption eine Menge Sichtweisen ins Spiel. Die zwei wichtigsten sind immer: Schlüsselwörter und Konzeption.

Damit ist gemeint, dass es vor allem Reizbegriffe und Schlüsselwörter sind, die das Individuum zum Erklingen und Erschüttern bringen, wenn es einen lyrischen Text liest. Die zweite Komponente ist die sogenannte Konzeption, damit ist jenes Programm gemeint, auf das sich die urhebende Person stützt. Die steilste Form der Lyrik ist demnach die Konzeptlyrik. Dabei wird zwar ein Programm beschrieben, die Ausführung wird aber den Anwendern überlassen.

Alexander Peer speist seine Lyrik aus einem Reservoir an Bildern, lyrischen Szenerien der Literaturgeschichte und Eingriffen aus einer deklarierten Metaebene heraus. So kann beispielsweise ein lyrisches Ich Dankbarkeit empfinden, wenn es von einem Gedicht aufgesucht wird zwecks Gestaltung eines Kunstwerks. Diese Szene ist als Gedicht eine Rarität, während wir nichts dabei finden, wenn jemand beim Fotografen ein Bild von seinem Gesicht bestellt.

Im „Gin-Lyrikband“, wie die aktuelle Sammlung in Bibliothekskreisen mittlerweile süffig genannt wird, sind als Tragwerk Bilder des Autors eingewoben. Diese Schwarzweißfotos sind ausgeklügelte Kompositionen und zeigen vor allem eine Sehweise, die hineinführt ins Bild.

Im ersten Bild, eine Art Stillleben mit Glas und Flüssigkeit, ist man versucht, an das Spiel mit halbvoll und halbleer zu denken. Aber diese Vorausschau wird dem Bild nicht gerecht, im Bild geht es nämlich drum, durch die Flüssigkeit hindurchzusehen wie durch einen Katalysator. Der Blick kommt hinten anders an, als er vorne eingedrungen ist, lässt dabei das Motiv aber unverändert.

Nach dieser Methode lassen sich die meisten Bilder mit Gewinn zu einem Schauerlebnis aufschaukeln. Die sechzehn Fotos „zeigen“ jeweils eine Abweichung geübter Sehpraktiken. Normalerweise weiß das Auge, was Vorder- und Hintergrund ist, wenn nun aber ein Strommast dem Dach eines Campingbusses entragt, lässt das Sehprogramm beides verschmelzen, ehe das Gesehene dann wieder logisch getrennt und den eingeübten Sehprogrammen zugeordnet wird.

Ähnliches geschieht, wenn das Bild eine eingerüstete Kirche zeigt, wobei Giebelkruzifix und Gerüst ineinander übergehen. Auch hier ist das Wissen um die Symbolik zuerst aufs Glatteis geführt, ehe dann wieder die einzelnen Teile zu ihren angestammten Kontexten eilen dürfen.

Die Bilder sind nach dieser Logik auch das Gerüst des Lyrikbandes. Sorgfältig über das Buch verteilt, entlasten sie den eingeübten Blick und belasten ihn mit den Zwischentexten, die nach Fachwerkmanier in das Gefüge eingesetzt sind.

Aber auch bei den Texten erhöht sich die Stabilität, wenn sie als ideelle Traverse quer durch die Materie gesetzt ist. Das Gedicht „Sinnsucher“ besteht aus drei voneinander getrennten Teilen, die durch die gleiche Überschrift und durch Platzzahl eins bis drei im Buch verstrebt sind.

Im Sinnsucher eins besteht der Sinn darin, dass die aufgezählte Identität den Berufsgruppen Soziologie, Psychologie und Theologie zum Markenzeichen wird.

Psychologie / Wer bin ich? // Soziologie / Wer sind ich? // Theologie/Philosophie //Wer bin wir? (33)

Sinnsucher zwei beschäftigt sich mit allerhand Getränken, die das Bewusstsein erweitern. (49)

Sinnsucher drei bekommt großes Lob, dass er einem Kind gleich bis zum Tod nicht mit dem Fragen aufhört. (71) – Diese drei Methoden der Sinnsuche decken tatsächlich den größten Teil aufgestauter Sinnfelder ab.

Die einzelnen Gedichte sind jeweils klug miteinander verschränkt, sie werden einfach mal verglichen mit den Vögeln, die sich im Herbst versammeln, um sich auf den Weg zu machen in den Winter. Dabei gibt es keine zwingende Ordnung, wiewohl sich zwischendurch ein Hauptvogel hervortut.

Überhaupt sind die Bilder ständig dabei, sich neu zu scharen und vielleicht aufzubrechen. Auf einem Gemälde wartet ein Vulkan schon seit Jahrhunderten, dass er ausbrechen darf, in einer Mulde sitzt ein Gedicht und ist überrascht, dass es gefunden wird. Stofftiere der Kindheit zwängen sich im lyrischen Gebrauch in einen Zweizeiler, und der Titel des Bandes geht auf die letzte Zeile des Gedichtes „Fassungslos“ zurück.

Auf der Suche nach Glück wagt das lyrische Ich eine Expedition durch Park und Hinterhof, offensichtlich werden dabei auch Gläser geleert, und Gin & Tonic machen das Ich fassungslos, da stehen schon die apokalyptischen Reiter da, „Gin zu Ende, achtzehn Uhr“. (20)

Die Genauigkeit, mit der das lyrische Ich unterwegs ist, lässt auf eine Bildungsexkursion schließen. Immerhin ist in Reichweite des Gins die Kultur als aufgebauschtes Feldlager installiert.

Ständig werden Partikel aus der Metaebene des Kulturbetriebs zitiert, Finnegans Fake erscheint einem völlig logisch, die leichte Abweichung des ursprünglichen Sinns ist glaubwürdig wie nach einem bewusst gesetzten Druckfehler.

Wer A sagt, muss B sagen; wenn er in der Romantik bewandert ist, muss er Achim und Bettina sagen. Der Elfenbeinwurm (44) zeigt sich als das Ergebnis solcher Gedankenschleifen.

Der Welt des Kunstbetriebs ist zwischendurch handfeste Lokalgeographie gegenübergestellt. Mozart heilt als Touristentrophäe alle Wunden, die ihm gezeigt werden. Im Innergebirg versucht jemand mit dem Gestus eines Wasserfalls, der großen Aufstülpung des Gebirges nahe zu kommen, während er auf der simplen Suche nach der Geliebten ist, die sich in diesen Alpenbögen offensichtlich verloren hat und von der letztlich nur der typische Geschmack der Kartoffel geblieben ist: „Weil in der Vorratskammer immer ein / paar Kartoffeln aus Pfösing auf dich warten.“ (67)

Schlafwach ist das lyrische Ich, wenn es auf Recherche aus ist, um die Risse in der Sprache aufzuspüren, weil diese jemand schlecht verfugt hat.
Das stärkste Bild einer „Wortüberraschung“ ist wahrscheinlich jene Szene, wo das Niemandsland überläuft. Was im ersten Eindruck vielleicht eine Schutzmaßnahme gegen Hochwasser ist, zeigt sich im zweiten Blick als die große Anklageschrift, die dem Kontinent zugestellt werden muss.

Das Niemandsland ist überlaufen / Jahrtausende verpasste die Kultur / bis zu den Menschenrechten. / Wie viel Kraft haben wir in den Sand gesetzt? (71)

Die Gedichte haben es nicht leicht, im politischen Gemetzel zu bestehen, ihre Aufgabe ist es, eine Buchstabenübung im Sinne von Zen durchzumachen.

Alexander Peer beendet seinen hellwachen lyrischen Ritt durch Zeit, Glas und Gin mit einer sogenannten Abschlussübung für den Geist, dessen Sehnen mürbe sind. „Ich schaue mir so oft die Buchstaben an, / ihre Eleganz, / ihre Elastizität, / ihre Expression [...]… es sind grazile Körper, so viel besser in Form als ich, als wir.“ (86)

Alexander Peer, Gin zu Ende, achtzehn Uhr. Gedichte, mit Fotografien des Autors und einem Nachwort von Daniela Chana
Innsbruck: Limbus Verlag 2021, 96 Seiten, 15,00 €, ISBN 978-3-99039-213-3

 

Weiterführende Links:
Limbus Verlag: Alexander Peer, Gin zu Ende, achtzehn Uhr
Wikipedia: Alexander Peer

 

Helmuth Schönauer, 14-11-2022

Bibliographie

AutorIn

Alexander Peer

Buchtitel

Gin zu Ende, achtzehn Uhr. Gedichte

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Limbus Verlag

Illustration

Alexander Peer

Seitenzahl

96

Preis in EUR

15,00

ISBN

978-3-99039-213-3

Kurzbiographie AutorIn

Alexander Peer, geb. 1971 in Salzburg, lebt in Wien.