Jörg Zemmler, Wir wussten nicht warum

jörg zemmler, wir wussten nicht warumWahnsinnigen wird oft der Seufzer nachgerufen: Denn sie wissen nicht, was sie tun. Dabei wissen diese bloß nicht, warum. Jörg Zemmler lässt ein „wahnsinniges Wir“ in seinen Gedichten auftreten. Selbstbewusst kommen Figuren und Fügungen zur Geltung, die es vor allem mit der Liebe haben. Der Untertitel präzisiert es: „Nur Zweifel gab es keine.“ – Hier sind vielleicht Missionarische am Werk.

Man liegt als Lesender nie falsch, wenn man einen Lyrikband vor dem Lesen durchzappen lässt wie ein Daumenkino. Die rasch vorüberzischende Textur offenbart dabei einen ersten Eindruck, ob etwas kompakt, fragil oder erschlagend ist.

Im Falle von Jörg Zemmler gibt es für diesen Daumen-Clip echte Zeichnungen. Diese sind freilich so dünn und leicht, dass sie eher an eine Notiz beim Korrigieren erinnern als an große Botschaften. Winzige Signaturen, abgebrochene Notizen, Kringel, Auswüchse eines Bleistifts, der während einer Wortmeldung unbeabsichtigt auf das Papier gehalten wird, aus alldem ergibt sich die Karikatur eines Bilderbuches. In einer anderen literarischen Welt werden wahrscheinlich die Signaturen als Botschaft aufgewertet, während die Texte dann zu kleinen Notaten schrumpfen müssten.

Dabei sind die Texte als Hauptbotschaft von einem Duktus euphorisierter Rhetorik getragen.

Ich nannte dich Nieselregen / Teufelsgeige / Rückwärtsgang“ (9) heißt es gleich zu Beginn, und es folgt ein Kompliment, dass es um Buchstaben geht, die dir gut zu Gesicht stehen. (11)

Das Wir macht sich nicht nur als Einzelpersonen ständig Komplimente, es entwickelt auch eine gemeinsame Lebensstrategie, indem es stark zusammenkuschelt oder Beobachtungen nach dem Vieraugenprinzip zu Gefühlsplastiken ausbaut.

„Sperrten uns nackt in die / Speisekammer umschlungen / Kalt bis wir es nicht mehr / Aushielten dann ins Bett / Zwei Decken vier“ (14)

Eben noch zu einem einheitlichen Erlebniskörper verschmolzen, lösen sich die Teile alsbald wieder voneinander und nennen sich gegenseitig Badewannen, in denen der eine im anderen badet. (15)

Die Grundstimmung ist über weite Strecken von überschäumender Romantik geprägt, selbstverständlich werden die Körperteile untereinander einzeln abgetastet und abgefragt, und kommoderweise schneidet man sich die Zehennägel bei Kerzenlicht.

Ständig sind neue Bilder gefragt, wenn die alten ausgeleiert sind, der ganze Fundus an Liebesrhetorik, Tagessprüchen oder Guten-Tag-Ritualen wird durchforstet, ob nicht etwas Neues zu entdecken sei.

Dieses Wir nämlich hat die seltsame Eigenschaft, dass es immer wieder auf Reset drückt und an den Start zurückwill. „Wir waren uns sehr wohl auch fremd, wer bist denn du?“ (25)

Von der Liebesrhetorik allein kann auch das schmachtende Wir nicht leben, weshalb es zwischendurch gilt, den Alltag zu bewältigen. Die fette Kreuzung vor Augen, auf der aufgedunsene Wagen an einer Ampel halten, kümmern sich die beiden um die schmutzigen Windschutzscheiben und fallen spontan über diese her. Einer märchenhaften Besitzer-Figur gefällt das dermaßen, dass sie sogar das Auto geschenkt kriegen, wenn auch nur für einen Tag.

Wieder auf sich zurückgeworfen kümmern sich die beiden um die nächstbesten Wahlen, die im öffentlichen Raum affichiert sind. Die beiden bedauern, dass sie nicht alle wählen können, die auf den Plakaten stehen. Der Sinn von Wahlen liegt ja bekanntlich darin, die Kandidaten glücklich zu machen. Letztlich fehlt es aber dem willigen Wahlvolk an genug Stimmen, um alle zu beglücken.

Neben den politischen Ritualen sind es letztlich die Bücher, die es einer Gesellschaft ermöglichen, das volle Bukett zu entfalten. (42) Dabei werden die Bücher zweimal aufgelegt, einmal als sogenanntes Kompendium, das ins Regal gestellt wird, und einmal als Folder, der aus zerrissenen Buchseiten besteht. Im Idealfall führen die gemeinsam gestalteten Bücher zu einem innigen Liebesverhältnis zwischen denen, die die Kunstwerke ins Regal stellen, und jenen, die sie gebrauchen und in Einzelblätter zerlegen.

Natürlich hinterlassen diese zerlegten Bücher Spuren, sie werden zu Textfragmenten, die sich in der Phantasie zur Prärie ausweiten. Hätten wir Pferde gehabt, wären wir geritten! Die gute alte Prärie ist so verstaubt wie der Weltspartag, der einst die Kindheit als Glückskäfer heimgesucht hat. Alle hatten was zu sparen und warfen Geld in diverse Briefkästen. Das Paradies schien zum Greifen nah, da konnte man gleich die Neujahrswünsche hinzuheften. (64)

Und weil die lyrischen Figuren schon beim Träumen sind: Aus dem Wald hinter dem Haus holten sie Holz und schnitzten einen Engel nach dem anderen. (73)

Was war eigentlich vor uns, fragen sich die Liebeskinder mitten im Text.

Weißt du noch / Fragtest du / Wie es war / Vor uns // Da erzählte ich dir / Und malte / Zehn Tage / Lang still / Hörtest / Du zu. (47)

Mit der Zeit ist die geheime Liste des Glücks vollgeschrieben und vollgemalt mit Situationen, in denen sie nicht wussten, warum.

Wenigstens der Schluss ist fix wie ein Schuss aus der Romantik. – Die Träumenden stehen am Fenster im Licht der Abendsonne.

Jörg Zemmler lässt seine Figuren in einem fröhlichen Ambiente schmoren, getragen voller Naivität und Zuversicht. Die Träume sind oft Blasen aus der Kindheit, die zerplatzen wie die Tage am Kalender. Letztlich ist der Gedichtband eine herrliche Gebrauchsanweisung für ein klares Lebensmotto: Nicht wissen, warum, aber keinen Zweifel hegen.

Jörg Zemmler, Wir wussten nicht warum. Nur Zweifel gab es keine, Gedichte
Innsbruck: Limbus Verlag 2022, 96 Seiten, 15,00 €, ISBN 978-3-99039-229-4

 

Weiterführende Links:
Limbus Verlag: Jörg Zemmler, Wir wussten nicht warum
Homepage Jörg Zemmler

 

Helmuth Schönauer, 28-11-2022

Bibliographie

AutorIn

Jörg Zemmler

Buchtitel

Wir wussten nicht warum. Nur Zweifel gab es keine, Gedichte

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Limbus Verlag

Seitenzahl

96

Preis in EUR

15,00

ISBN

978-3-99039-229-4

Kurzbiographie AutorIn

Jörg Zemmler, geb. 1975 in Bozen, lebt in Wien und Seis.

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