Kirstin Schwab, Wir teilen unser Ungleichgewicht

kirstin schwab, wir teilen unser ungleichgewichtIn schwärmerischen Naturbeschreibungen der Romantik wird öfters beschworen, dass es das Ungleiche ist, das in der Natur die Lebewesen zuerst von einander in Schach hält, ehe sich dann ein harmonischer Zustand einstellt. – Im politischen Diskurs hingegen gilt das Ungleichgewicht meist als Anlass, geeignete Maßnahmen zu setzen, und sei es nur, dass man sich wie Justitia die Augen verbindet. - In der Liebe hingegen brauchen diese Augen nicht verbunden zu werden, denn die Liebe macht ja von sich aus blind.

Kirstin Schwab kümmert sich in ihren Gedichten um dieses Ungleichgewicht, das die Seelen umgibt, manchmal als schwere Krise einer Lebensentscheidung, dann wieder als stilles Ungemach, das einen unerwartet beschleicht. Der Übergang der Befindlichkeit von poetischer Erregung in profane Erschlaffung ist fließend und funktioniert in beiden Richtungen.

Die Gedichte nehmen Rücksicht auf diese brüchigen Stimmungen, die einzelnen Verse sind wie Abraum eines größeren Gedankens aufgeschüttet und bleiben ungeordnet, manchmal verkürzen sich die Zeilen zu einer puren Notiz, die aber jäh abgebrochen ist.

Die Poesie-Partikel sind in einem seltsamen Ungleichgewicht gegeneinander verspreizt, es bedarf nur des sprichwörtlichen Hauchs der Zeit, und die sorgfältig austarierten Gefüge können auseinanderfallen.

Als Sinnbild dieser Verhältnisse ist eine Wippe aufgestellt, die entgegen aller Schwerkraft in einer Extremstellung verharrt. Auf der einen Seite sitzt der Kopf, auf der anderen Seite das ausgehebelte Ich. Wie in Schaukeln vergangener Kindertage baumeln die Beine leblos in der Luft, der Kopf voller Schwerkraft ist übermächtig.

Dieses Wippen-Bild kann als Choreographie dienen für Gedanken, die ständig zwischen Bauchgefühl und Intellekt oszillieren.

Der „Plot“ dieser Sinngedichte lässt sich anhand der fünf Kapitelüberschriften herauslesen. „1 Wir teilen unser Ungleichgewicht / 2 Wie beides? / 3 Gedichtfalten / 4 Ferse oder Auge zeigen / 5 Sanft / Mut“

Die einzelnen Stationen sind einerseits ähnlich einer Biographie ineinander verschränkt, die Abschnitte resultieren aus dem Zeitablauf der reflektierenden Personen. Im engeren Sinn bedeuten diese fünf Schritte auch die fünf elementaren Abschnitte einer Liebe, und pragmatisch gelesen können diese Bottiche der Poesie auch als Jungbrunnen für eine lesende Seele dienen, die einem Kurpark ähnlich quer über den Tag aufgestellt sind und woraus sich mit der hohlen Hand stets Gedichte schöpfen lassen, bis es Abend ist.

Das Abschlussgedicht lässt das Tagwerk in einen klaren Ausblick münden, worin die obligaten lyrischen Vögel vorkommen, der Strauch voller Vögel, Wind und Gedanken, verneigt sich vor der Witterung und dem Ich, das darin sitzt als Menschenbällchen.

Strauch / voll versteckter Vogelbällchen / bebend biegsam / im Wind / heute fliegt kein kluger Vogel / auf den höchsten Ast / Mäßigung / auch mir / im Gestrüpp der Gedanken / der Strauch verbeugt sich / wackelt / bin heute / ein entspanntes Menschenbällchen (103)

Nicht immer hat das Ich einen Landeplatz gefunden, ein Hauptthema heißt „Weggehen Ankommen“. Gleich fünf Gedichte sind diesem ungleichen Begriffen gewidmet, die sich als Paar aufspielen und dabei Mühe haben, sich nicht zu verraten.

Jemand hat einen Sessel im Raum verrückt, und schon ist das Stillleben aus den Fugen geraten (39); beim Blick nach oben an die Decke ist während des Liegens die Sichtlinie verrutscht (40); wie lange es wohl dauert, bis ein Liebesakt im neuen Haus Platz hat (41); schon wieder hat jemand den Sessel verrutscht und das Mobiliar des Tages verändert (42); es gilt, beizeiten die Blicke einzusammeln für das gemeinsame Sitzen am Tisch (43).

In diesen Miniaturen des Zusammenlebens bleibt die Richtung offen. Geht es auseinander, führt es zusammen? Die Antwort heißt beides. - Wie beides? fragt das Gedicht eingeklemmt zwischen Gedankenspiel und Gewicht, es erwartet keine Antwort. (31)

In Wellenbewegungen spülen sich Liebesgedichte wie von selbst an Land, selten tragen sie fertige Sätze unter dem Schnorchel, meist sind es Satzteile, die auf Brandung machen und in zerrissenem Layout aus dem Bild steigen. Jede Welle schiebt ein anderes Motiv durch die Zeit: Gebirgsmassiv, Skyline, Krone, Horizont. (77)

Kirstin Schwab gibt ihren fragilen Textschüben nur den notwendigsten Halt, gerade so viel, dass sie noch zusammengefügt bleiben, wenn man die Seite aufschlägt. Es geht um das Ungleichgewicht zwischen den Liebenden, den Gedichten, dem Leser und dem Buch. – Alles kann jäh zusammensinken.

Kirstin Schwab, Wir teilen unser Ungleichgewicht. Gedichte
Wien: Löcker Verlag 2023, 108 Seiten, 19,80 €, ISBN 978-3-99098-157-3

 

Weiterführende Links:
Löcker Verlag: Kirstin Schwab, Wir teilen unser Ungleichgewicht
Homepage: Kirstin Schwab

 

Helmuth Schönauer, 08-02-2023

Bibliographie

AutorIn

Kirstin Schwab

Buchtitel

Wir teilen unser Ungleichgewicht. Gedichte

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Löcker Verlag

Seitenzahl

108

Preis in EUR

19,80

ISBN

978-3-99098-157-3

Kurzbiographie AutorIn

Kirstin Schwab, geb. 1976 in Graz, lebt in Jois.

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