Gerhard Ruiss, Kanzlerreste

gerhard ruiss, kanzlerresteDie politische Realverfassung eines Landes zeigt sich nicht zuletzt im Sprachgebrauch. Einerseits werden Begriffe immer bedeutungsloser und austauschbarer, wenn sie in den politischen Diskurs geraten, anderseits werden sie auch stets lächerlicher und verpönter, bis hin zum berühmten N-Wort.

Am Beispiel des österreichischen Sprachgebrauchs von „Kanzler“ lässt sich vortrefflich zeigen, wie durch permanenten Fehlgebrauch einer neutralen Berufsbezeichnung innerhalb eines Generationswechsels ein Schimpfwort geworden ist, das auf dem Weg zur kompletten Verachtung ist.

Der sogenannte „Kanzler“ ist mittlerweile ein Eigenschaftsträger, in dem Überforderung, Verschmitztheit, Banalität, Größenwahn und Historismus zusammenlaufen. Dabei schwingt als Ur-Kanzler immer jener Austrofaschist der Ersten Republik mit, der das Schlechte aus Österreichisch in Form von Klerikalismus, Ausschaltung des Parlaments, Diktatur und Straßenbau über den Großglockner verinnerlicht hat.

Nicht umsonst wurde um die Jahrtausendwende jener berühmte Kanzler, der als Dritter in der Wahl Erster in der Regierung geworden war, mit dem Bonmot empfangen: „Vom Dolferl zum Wolferl!“

Gerhard Ruiss setzt sich schon ein Literatur-Leben lang mit dem Phänomen Kanzler auseinander, das von ihm mit einem einzigartigen Genre gewürdigt wird. – Die Gattung „Kanzlergedichte“ zeigt in üppiger Rasanz, wie aus dem jeweils neuesten politischen Schmäh über Nacht jene historischen „Restln“ entstehen können, die wie das „Gröstl“ die eigentliche politische Verfassung des österreichischen Staatswesens sind.

Quasi als Handbuch sind die drei Aspekte als kurze Essays angelegt:

- Die politische Lage / Vorbemerkung (5)
- Die poetische Lage / Zwischenbemerkung (89)
- Die gesellschaftliche Lage / Schlusswort (175)

Dazwischen sprießen und flunkern die Gedichte durch die Gegend, wie beim Trennschweißen monströser Gebilde Funken von der Scheibe fliegen.

Drei Beispiele sollen zeigen, wie diese lyrischen Funken noch die Spuren der Schlagzeile in sich tragen, mit der sie in die Medienlandschaft gefräst wurden, um den wahren Kern der Botschaft zu verschleiern, das Volk einzulullen und den Wortspender (meist den Kanzler) als grandiosen Märchenerzähler zu installieren.

- „regieren geht ganz von selbst / man braucht gar keinen dazu / regiert werden kann ein jeder / und schon bist es du“ (22)
- „reich geworden // sie kommen zu uns / mit zügen / sie fliegen zurück / in schüben.“ (52)
- „tagesordnung // 14 uhr 30 sudern / 14 uhr 45 weitersudern / 15 uhr 15 immer weiter sudern / […] zwei pausen / keine einigung.“ (70)

Diese ausgestreuten Sätze flattern wie ungebrauchte Flyer eine Zeitlang durch das Gelände, ehe sie dann in windstillen Nischen zur Ruhe kommen wie jenes Material, das sich selbst in ein Archiv einliefert. Was an abgegriffenen Floskeln unter Parkbänken, in U-Bahnarchitekturen oder am Eingang zu Musikveranstaltungen liegen bleibt, sind echte Kanzlerreste, die eben noch als das Kanzlerneueste auf den Wählermarkt geworfen worden sind.

Gerhard Ruiss gliedert sein Material nach der Methode von Pressekonferenzen, er weiß, dass man den Kanzlergedichten eine Schlagzeile geben muss, damit die von der Presse später auch wissen, wo sie es in der Zeitung abdrucken sollen.

Politische Poesie hat seit Oswald von Wolkenstein etwas unterhaltsam Zusammengerafftes, wenn wir die poetischen Themen als ein Gedicht untereinanderschreiben, haben wir oft einen besseren Überblick über die Zeit, als es so manches Sachbuch für eine Talkshow zu liefern vermag.

In einer Übungsannahme lässt sich das Österreichische des gegenwärtigen Jahrhunderts perfekt mit Kanzler, Kanzlertgetue und Kanzlerwirkung beschreiben. Als Hyper-Gedicht über diese Epoche lässt sich eine Wortkette aus zehn Begriffen zusammen-browsen, die einer historischen Erstsichtung durchaus standhält.

„1. Antritt / 2. Querschüsse / 3. Fortschritt / 4. Außeneinflussnahme, Außenkontakte / 5. Begleiterscheinungen / 6. Einbrüche, Umbrüche, Anwürfe, Umstürze / 7. Personalreserve / 8. Gemacht richtig / 9. Abgang, Abstieg / 10. Rückstände“

Dieser Leitfaden durch die Kanzleraufgaben lässt sich von der originären Aufgabe eines „Kanzlerdichters“ entkoppeln, Sylvia Treudl, die Schirmherrin des Projekts, liefert probehalber Kanzlergastgedichte, die an jedem Ort Österreichs funktionieren.

Und der sogenannte Volksmund ist ebenfalls schon am Werkeln, um diese sagenhafte Epoche zu besingen, als an allen Ecken und Enden skurrile Typen auftauchten und sich zum Kanzler krönen ließen.

So ist der ehemalige Schweigekanzler zu einer Figur geworden, die es mit Helden aus dem Nibelungenlied aufnehmen kann. Aber auch der Schattenkanzler, der ein paar Wochen lang als Hampelmann eines anderen über die Bühne geirrt ist, hat sich zu einer durchaus poetischen Charakterrolle entwickelt.

Wenn Gerhard Ruiss Pech hat und es österreichisch zugeht, wird man ihm das „Kanzler-Büchl“ aus der Hand reißen, zu singen beginnen und lauter liebe Augustins drausmachen. Der Österreicher bastelt nämlich so lange an seinen Kanzlern herum, bis er sie liebt, was immer sie auch anstellen.

Gerhard Ruiss, Kanzlerreste. Das Kanzlerneueste, Kanzlergedichte 2018 – 2023
Wien: Edition Aramo 2023, 189 Seiten, 18,00 €, ISBN 978-3-9519932-9-4

 

Weiterführende Links:
Edition Aramo: Einzelpublikationen
Wikipedia: Gerhard Ruiss

 

Helmuth Schönauer, 01-03-2023

Bibliographie

AutorIn

Gerhard Ruiss

Buchtitel

Kanzlerreste. Das Kanzlerneueste, Kanzlergedichte 2018 – 2023

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Edition Aramo

Reihe

Kanzlergedichte

Seitenzahl

189

Preis in EUR

18,00

ISBN

978-3-9519932-9-4

Kurzbiographie AutorIn

Gerhard Ruiss, geb. 1951 in Ziersdorf, lebt in Wien.