Durs Grünbein, Äquidistanz

durs günbein, äquidistanzÄquidistanz ist ein Zustand, der in vielen Segmenten menschlichen Lebens eine anerkannte Rolle spielt. Ob im juristischen, physikalischen oder poetischen Bereich, überall steigt die Zustimmung, wenn die Äquidistanz ins Spiel gebracht wird. Einen gesellschaftlichen Durchbruch erreichte diese Haltung während der großen Pandemie, als alle angehalten waren, Abstand zu allem zu halten.

Durs Grünbein nennt seine Sammlung aus etwa neunzig Gedichten straff „Äquidistanz“. Und schon das Cover ist so „ebenmäßig“ gestaltet, dass man es samt dem darin eingeschlagenen Buch gerne in die Hand nimmt und mit dem Finger die Linien nachfährt, die wie geographische Höhenlinien einen Abstand zu einem Gipfel messen. Das magische Wort selbst ist im harmonischen Schnitt aufgegliedert in die Silben Äqui-di-stanz.

Als Abschlussgedicht taucht diese Äquidistanz noch einmal programmatisch auf und stellt den lyrischen Vorgang in den Fokus: „Während um ihn her ganze Reiche, Realitäten / zusammenbrachen, ineinanderstürzten / wie die Regeln des Abstandhaltens / und er eines Tages anfing, Gedichte zu schreiben.“ (184)

Damit ist vorerst vielleicht die Überwindung isolierten Schreibens während der Pandemie gemeint, aber auch die angesprochenen Themen werden noch einmal in einen idealen Zustand gebracht, indem die Spannungsdistanz zwischen Autor – Gedicht – Leser harmonisiert und poetisiert wird.

In neun Kapiteln, die man mit dem uralten Spiel „Alle Neune“ in Verbindung bringen könnte, indem die Kegel mit wuchtiger Lyrik-Kugel abgeräumt werden, stellen sich Themen im Abräumkreis auf. Darunter sind Szenen aus der Geschichte und Geographie Berlins, der historischen Wunde der Weimarer Republik. Die Natur zeigt sich als Auszählreim aussterbender Arten, Rom als rares Stück regennasser Geschichte für Stipendiaten, und die „Poesia metafisica“ als tote Botanisiertrommel.

Einen Sonderfall stellt das Kapitel „Insel, die es nicht gibt“(103) dar, worin eine imaginierte Insel zu einem Tummelplatz der Künste und Wissenschaften ausgeträumt wird. Dabei gehen alle denkbaren Handwerker und Kopfdenker an Land und erkunden die eigenen Visionen als Stoff für etwaige weitere Träume. Blütenstaub wird zum Zeitenstaub, die Evolution schlüpft artig in die vorbereiteten Fächer der Segretion, „das Meer ist sichttief bis zum Grund“, vom Leuchtturm aus ist ferne Migration zu sehen, jemand spricht von Erosion. Der lyrische Beobachter nimmt auf einer Insel einen Standpunkt erhöhter Äquidistanz ein und lässt sie alle vorüberziehen, die Griechen, die Mythen, die Botaniker, die Sirenen, die Migrierenden, die fünf Saisonen des Tourismus. Am Schluss ist alles auf einer Tonscherbe „aufgesprochen“, die in einer Bucht der Nachsaison tümpelt und wartet, erweckt zu werden, vielleicht für eine neue Religion.

Je kleiner die Motive, umso größer die Äquidistanz, könnte man jenes Kapitel zusammenfassen, in dem Durs Grünbein seine feine Beobachtungsgabe für stille Dinge auf volle Lautstärke dreht.

Hintereinander gereiht erwachsen aus Miniaturen schmale Epen, wenn man die Dinge in einem poetischen Streich über die Saiten ziehen lässt: Messer, kleine Löffel (171) – Die Keller (172) – Loses Blatt (173).

„Loses Blatt // Schmutziges kleines Gedicht, vor der Haustür gefunden, / Schrift, vom Regen verschmiert. / Ganz von allein fängt es an, / fast wie ein Menschenleben. / Sieht aus wie ein Einkaufszettel / für die nötigsten Dinge, / vom Wind aufgeplustert. / 2 x Milch, Butter, 1 Brot, / Ingwer, Tomaten, Zitronen. / Nichts von Bedeutung hastig / hingekritzelt in den Ritzen / der Tage im Wetterwechsel. / Laub im Städtischen Staub, / mehr nicht. Zwischen den Zeilen / aber zwitschert das Licht.“

Diese kleine Notiz, die sich zu einem Alltagsprotokoll für Stimmungsnuancen auswächst, erfährt durch die Methode Äquidistanz erst den wahren Sound, indem man als Leser eine Notiz aus dem Vorderteil des Bandes ins Auge fasst, worin im Stile einer Einkaufsliste historischen Partikel zusammengekritzelt sind für ein zeitgenössisches Bild.

„Postplatz, frühe dreißiger Jahre // An eine Frau in Döbeln schreibt ein Mann / Grüße aus dem schönen Dresden. / Nebenbei: Du scheinst ja gestern / abend sehr müde gewesen zu sein! / Du, ich mag Deine grauen Augen so sehr […] / Dein Heinz“ (35)

Das Zusammenspiel kleiner Zeilen für den Alltag funktioniert ähnlich wie die Quantenphysik, es gibt keinen logischen Zusammenhang, aber dennoch sind die Dinge logisch verknüpft, wenn sie unter das Okular eines großen Lyrikers geraten.

Durs Grünbein hat diesen zweiten scharfen Blick, der die Geschichte poetisch macht und das Poetische historisch.

Durs Grünbein, Äquidistanz. Gedichte
Berlin: Suhrkamp Verlag 2022, 198 Seiten. 24,70 €, ISBN 978-3-518-43098-9

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Durs Grünbein, Äquidistanz
Wikipedia: Durs Grünbein

 

Helmuth Schönauer, 31-05-2023

Bibliographie

AutorIn

Durs Grünbein

Buchtitel

Äquidistanz. Gedichte

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Suhrkamp Verlag

Seitenzahl

198

Preis in EUR

24,70

ISBN

978-3-518-43098-9

Kurzbiographie AutorIn

Durs Grünbein, geb. 1962 in Dresden, lebt in Berlin und Rom.