Friedrich Hahn, LEERGUT

friedrich hahn, leergutIn einem radikalen Definitionsversuch lässt sich die Formel aufstellen: „Literatur ist Leergut.“ Die Formel wird etwas milder, wenn man sie mit der Beschreibung ergänzt, wonach ins Leergut Autor und Leser ihre Gedanken einlagern oder daraus entnehmen. Im Hintergrund schwingt diese schöne Kommunikationsüberlegung mit, wonach es Containment und Content braucht, damit ein Buch Zufriedenheit verströmen kann.

Friedrich Hahn greift diese radikale Überlegung für seinen Roman LEERGUT auf und erwähnt unter anderem, dass immerhin schon Flaubert einen Roman ohne Thema schreiben wollte. Probehalber nimmt er als Autor die Position einer leeren Schachtel ein, die danach verlangt, irgendwie befüllt zu werden.

Mit dem Gewusel eines Recyclinghofs stellt sich in der Folge jede Menge Literatur ein, die grob sortiert angeliefert wird. Das Hauptgefühl dabei ist Erleichterung. Erleichterung darüber, dass die Gedanken verlässlich vorbeischauen, dass tagsüber genug Stoff nachwächst, der sich am Abend ernten lässt, dass der Stoff ständig sein Gesicht wechselt und dass der Text erst dann zur Ruhe kommt, wenn man ihn entsorgt oder ablegt.

Der Autor geht also also mit leerem Korb ans Tagwerk, aber er ist durch seine Lebenserfahrung auf Beobachtungen getrimmt, die sich stets neu sortieren und mit Überschriften versehen lassen.

Obwohl der Leergut-Roman keinen gängigen Plot hat, den man auf das Cover schreiben könnte, hat er doch an die siebzig „Zugänge“, durch die man sich Geschichten erobern kann, die sich dann auch erzählen lassen. Wenn etwa beim Zappen am Fernsehgerät die angesteuerten Programme in einander fließen und bei dieser Gelegenheit den Beobachter ins Geschehen mit hineinziehen, so lässt sich aus dieser Konstellation jeden Tag eine neue Geschichte erzählen.

Diese Zugänge sind vermutlich die Hauptinformation des Romans, hintereinander gelesen erfährt man siebzig Methoden, wie man einen Roman lesen könnte.

  • Sobald etwas aufgehört hat, spricht man von Vergangenheit. (14)
  • Hören und Sehen vergeht. (28)
  • Misstrauen als Begabung. (55)
  • Zeit, um sich umzuschauen. (77)
  • Es hat sich angekündigt. (88)
  • So könnte es gewesen sein. (93)
  • 99 Jahre Samstag – die ersten 70 Jahre. (94)
  • Bloß kein Plan. (95)

Vereinfacht gesprochen handelt es sich bei diesen Überschriften um Beschreibungen von Konstellationen, in denen ein Text zu gären beginnt und zu Literatur wird.

Diese Zugänge lassen dem Leser jeglichen Spielraum: der eine wird an einen Essay denken, die andere an einen Grad von Sensibilität, etwas Drittes (ein Kind?) könnte ein Spiel aus dieser Vorgabe erfinden.

Im Roman ist etwas eingeflochten, was eine Nähe zu Tagebuchnotizen hat, eine Mitschrift des Fernsehkonsums sein kann, Fügungen wiedergibt, die ein Flaneur während eines Spaziergangs aufgeschnappt hat. Und die meisten Sätze sind pure Überraschung, wie sie entsteht, wenn die Assoziation sich freien Auslauf nimmt.

Die Erfahrung ist ein Labyrinth. Wohnen – verschwinden – heimkommen – wiederwohnen. (28)

Dieser Satz schießt einem beim Lesen ein wie eine Überdehnung des Muskelgewebes. Wie nun, wenn sich das eigene Leben auf so eine Wörterkette zusammenschleifen ließe?

Die meisten Romanfiguren von Friedrich Hahn tragen diese Wohnsituation um den Hals, kein Amulett scheint gegen die labyrinthische Erfahrung zu helfen.

„Die Sätze ringen um gutes Gelingen.“ (43) Das ist wahrscheinlich die knappste Beschreibung für das, was ein Schriftsteller oft nur schweren Herzens aus der Hand gibt, damit es gut werde. Ähnlich knapp ist ein langer Abend zusammengefasst:

Ein Selbstgespräch trinkt Bier. (49)

Dem Dreischritt Leere – Konstellation – amorpher Plot folgt noch ein Destillationsvorgang, indem die Prosatexte verpuppt werden und als lyrische Schmetterlinge den Roman beschließen. „36 lyrische Essenzen“ nennt sich der Ausklang, in dem Konstellationen, Motive und Schlüsselsätze aufgegriffen und neu geordnet werden. Manche Gedichte tragen den gleichen Titel wie vorhin die Befüllung des Zustands mit Worten.

Bei Gedichten kommt es vor allem auf den Standpunkt an: Gegenübergestellt zeigt ein Gedicht über den Stillstand der Bäume ähnliche „Allüren“ wie ein Kühlschrank, der röchelt, und einen uncoolen Tod stirbt. (105)

Friedrich Hahn geht mit dem Leergut ans Innerste seiner Schreibexistenz, er startet jeden Tag als bloßes Behältnis, das es tagsüber mit Erfahrung und Beobachtung auszufüllen gilt. Manchmal bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich selbst in die leere Box zu setzen und die eigene Biographie zu entrollen.

„Was nicht im Protokoll steht, das muss man sich denken. […] Im Durcheinander vieler Gesichter steht Ungläubigkeit geschrieben. Der mit dem Haus, der mit dem Alkoholproblem, dem Herzklappenfehler und den drei Kindern, das war ein anderer. So viel jedenfalls, so viel sei gewiss.“ Soweit der Sukkus aus 99 Jahren Samstag – die ersten 70 Jahre.

LEERGUT ist das größte Sujet, das sich in der Literatur denken lässt. Und wie Kinder am liebsten mit leeren Kisten spielen, spielen Lese-Profis gerne in den Romanen von Friedrich Hahn mit.

Friedrich Hahn, LEERGUT. Der etwas andere Roman nebst 36 lyrischen Essenzen
Maria Enzersdorf: Edition Roesner 2023, 133 Seiten, 16,90 €, ISBN 978-3-9505217-3-3

 

Weiterführende Links:
Edition Roesner: Friedrich Hahn, LEERGUT
Wikipedia: Friedrich Hahn

 

Helmuth Schönauer, 03-06-2023

Bibliographie

AutorIn

Friedrich Hahn

Buchtitel

LEERGUT. Der etwas andere Roman nebst 36 lyrischen Essenzen

Erscheinungsort

Maria Enzersdorf

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Edition Roesner

Seitenzahl

133

Preis in EUR

16,90

ISBN

978-3-9505217-3-3

Kurzbiographie AutorIn

Friedrich Hahn, geb. 1952 in Merkengersch / NÖ, lebt in Wien.