Peter Pessl, Ah, das Gasthaus der Wilderness!

peter pessl, ah das gasthaus der wilderness!Selbst für Leseprofis sind Bücher manchmal vorerst verschlossen wie eine Nuss, man trägt sie als Krähe ein paarmal in die Luft, ehe sie dann aufgeht, wenn man sie richtig zu Boden fallen lässt. Andere nehmen den Text als Stein von Sisyphus und beginnen mit dem Rollen. Die dritten beginnen mit der Einbegleitung, in der letztlich alles drin steht, um in den Text eintreten zu dürfen.

Peter Pessl ist offensichtlich selbst überrascht, worauf er da stößt: „Ah, das Gasthaus der Wilderness!“ Dieses Stück Kultur in der Wildnis fordert den Besucher auf, die gewohnten Sehweisen zu verlassen und der Dramaturgie der vierzig Prosagedichte zu folgen, die gleich nach dem Eintritt auftauchen werden.

Die Gedichte sind immer ein dreifaches, quasi wie ein Altarbild mit zwei Seitenflügeln. Anders beschrieben handelt es sich bei den Gedichten um ein Davor und ein Danach. Im Davor ist das einsame Sprechen der Wälder angesprochen, kommen die dahin stürzenden Flüsse in leeren Ebenen ungezähmt zu Wort, diese Wortschwalle sind wild und niemandem verpflichtet. – Im Danach tritt das Digitalisierte auf, das Menschen wie Göttern Streit, Schuld und Vergeltung beschert.

Die mittigen Prosagedichte sind einerseits vom Hauch der Natur beatmet, andererseits verwalten sie sich selbst in Schaltkreisen und auf Motherboards. Durch die Verbindung der beiden Hemisphären wird der Leser in seinen Gewohnheiten in Frage gestellt. Was in der Biologie wie eine Gesetzmäßigkeit erscheint, muss noch lange nicht in der Digitalisierung funktionieren. Das Prosagedicht speist sich aus beiden Welten und ergibt folglich einen noch nie dagewesenen Sinn.

Die erste Lektüre wird man wahrscheinlich am besten dazu verwenden, um herauszufinden, welche Vorüberlegungen man an welcher Stelle fahren lassen muss, um zum vermuteten Sinn zu gelangen.

In einer zweiten Lektüre wird man sich vielleicht auf Schlüsselwörter stürzen, die man in anderem Zusammenhang kennt, man wird sich überlegen, ob sich dieses Material auch in einer anderen als der bisherigen Form lesen lässt.

Im Traum angesiedelt streift jäh eine historische Widmung das Lesefeld. „Für Erwin Rommel / soll man nicht / schreiben, / scheißen auf ihn, / das muss man!“, so / Emmerich Talos im Traum …“ (17) Dem korrekten Historiker Talos würde bei Tageslicht keinesfalls eine subjektive Äußerung dieser Art entfahren, andererseits dürfte auch er träumen, wenn er privat ist.

Aus einer Entrümpelungsaktion, wie sie beim Aufarbeiten historischer Ereignisse täglich auf einem Dachborden passiert, stammt der Hinweis auf eine vergessene Uniform. „Großmutter war Heizerin, später Zugführerin im ersten Krieg gewesen, (die Männer waren alle schon gefallen) so erklärt sich ihre Uniform…“ (29)

Hier werden Phrasen, wie sie in historischen Berichten üblich sind, als Fundstücke aneinandergereiht, um der geschichtlichen Verallgemeinerung im Zusammenhang mit Biographien zu entkommen.

„Dein Honigfinger bedeckte den Tag.“ (74) Zuerst ist man geflasht von diesem fachlichen Bienenhinweis, gilt doch der Autor als anerkannter Bienenzüchter. Freilich erinnert der Honigfinger auch an diverse Kindheitstage, wo es mit dem Finger ganze Teigschüsseln auszuschlecken galt, bis eines Tages die gesüßte Kindheit vorbei war.

Gegen Mitte hin wird in Erinnerung gerufen, welche Poetologie den vierzig Prosastücken unterlegt sein könnte. „Wozu denken Formales? - Die Codes einlösen des Phantastischen, Blumenhellen, Kriegsgetöses? Dann genügt Formales zu denken, zu formulieren nicht mehr!“ (77)

In einem Gasthaus soll es bei fortdauerndem Besuch auch lustig zugehen, wenn die politischen Sachverhalte der Ernsthaftigkeit entkleidet und dem Witz anheim gestellt werden.
„Beim Fortgehen, / Türkisin, ob du / zurückkehrst / oder nicht, / weint das Kleinkind, / denk daran…“ (146) Da denken viele an diese seltsame österreichische Partei, die ihre Farbe auf türkis gewechselt hat und ein paar Jahre lang von einem studentischen Kind geführt worden ist.

Das vollkommene Gegenmittel für diese polit-groteske Ausformung liefert schließlich die Gebrauchsanweisung selbst. „Das vollkommene Prosagedicht 39 frisst Türkise, nicht?“ (187)

Peter Pessl produziert zu seinen versteckten Thesen flüchtiges Material, das vom Leser nur mühsam gebändigt und Seite für Seite abgearbeitet werden kann. Die Lesedisziplin bleibt dabei nach allen Seiten hin offen. Der Text kann letztlich nicht eingefangen und schon gar nicht rezensiert werden. Damit gleicht das Unterfangen einem Besuch im Gasthaus der Wilderness, an den man sich am nächsten Tag nur schwer erinnern kann.

Peter Pessl, Ah, das Gasthaus der Wilderness! Prosagedichte. Mit Zeichnungen des Autors
Klagenfurt: Ritter Verlag 2023, 200 Seiten, 23,00 €, ISBN 978-3-85415-657-4

 

Weiterführende Links:
Ritter Verlag: Peter Pessl, Ah, das Gasthaus der Wilderness!
Wikipedia: Peter Pessl

 

Helmuth Schönauer, 01-07-2023

Bibliographie

AutorIn

Peter Pessl

Buchtitel

Ah, das Gasthaus der Wilderness! Prosagedichte

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Ritter Verlag

Illustration

Peter Pessl

Seitenzahl

200

Preis in EUR

23,00

ISBN

978-3-85415-657-4

Kurzbiographie AutorIn

Peter Pessl, geb. 1963 in Frankfurt/Main, lebt in Wien und Südburgenland.