Kirstin Breitenfellner, Gedichte ohne ich
Üblicherweise entstehen Gedichte rund um das lyrische Ich herum. Was aber nun, wenn dieses Ich sich aus dem Rennen nimmt, verschüttet wird oder sonst wie verlorengeht? Und was lässt sich über das lyrische Vakuum sagen, das bei Gedichten „ohne ich“ entsteht?
Kirstin Breitenfellner arrangiert in zehn Kapiteln diverse lyrische Versuchsanordnungen, um der „Ich-Entnahme“ im poetischen Kontext auf die Schliche zu kommen. Dabei wird die bewährte Form des Sonetts gewählt, sie dient als verlässliches Gefäß für diverse lyrische Reaktionen und Eruptionen.
In der Eingangssequenz werden daher dem Ich noch einmal allerhand Kräfte, Ambitionen und Reflexionen zugesprochen. In der ersten Strophe kommt dem Ich die Kompetenz zu, die Welt zu erschaffen.
ich bin ein usurpator / ergreife meine macht / die wesen, die mich leben / haben mich erdacht (9)
In der Folge wird dieses Ich ermächtigt, sich auf Schlüsselkompetenzen zu stürzen, um der Umgebung gerecht zu werden. Antrieb, Meinung, Selbstverkennung, Wanderung oder Zwischenräume (18) sind Steuerungselement, mit denen das Ich, stets in Gefahr, ausgelöscht zu werden, zu navigieren hat.
Im Versuch „Selbsterschaffung“ werden jene Trugbilder vorgestellt, in Klammern gesetzt und relativiert, die üblicherweise ein Ich antreiben. Nimmt man diese Ziele vom Spielplan des Lebens, relativiert sich auch das Ich und lässt das Gedicht als Gerippe zurück. Große Worte werden durch die Verpackung in Klammern gezähmt und zu handhabbarer semantischer Ware. „vom glück / der ewigkeit / in schuld / janusgesicht / selbstgerüchtigt / fast vergällt“ ergeben untereinander gelesen ein programmatisches Gedicht.
In den „Vergewisserungen“ (25) geben die Sonette über fundamentale Erkenntnisse zu Physik, Psychologie und Poesie Auskunft. Die Sätze sind zu Nägeln ausgeformt, die im Fleisch der Lyrik stecken, wie es landläufiug heißt.
das ich steckt fest im körper“ / „die welt ist so robust“ / „das ich erstickt im wir.
Die nachfolgenden „Ich-Auslotungen“ durch das Sonett sind mit Kompositionen, Adoptionen, Tagesträume, Einkleidungen, Wohnträume, Gefühle nicht für sich, Dekomposition überschrieben.
Diese Verfahrensweisen produzieren gewissermaßen selbständige Genres, die miteinander vernetzt sind und sich austauschen. „Der Morgen fängt sich ein Gedicht“ (44) heißt es verheißungsvoll, dieser Start für einen Tagestraum könnte aber auch mit Wohngedichten ausgekleidet werden, wenn täglich als Ritual ein Sofa in den Mittelpunkt der Gedanken rückt, egal wer darauf sitzt.
Jäh taucht ein sogenannter „Ich-Macher“ auf und erklärt alles zum Subjekt. Die „ichlosen“ Gedichte erodieren, im Zweifelsfalle kommt eine vage Körperlichkeit des Ichs durch die Hintertüre oder über das Unterbewusstsein ins Sonett. Es wird gewiss, dass sich das Ich nicht aus den Texten verbannen lässt. Je mehr es geleugnet wird, umso schärfer entwirft es seine Konturen.
Dabei können Gefühle durchaus subjektlos werden, wenn sie etwa als pandemische Angst auftreten, ohne dezidierte Zuordnung zum Subjekt. „Kichern im Absprung“ heißt es in einem Abgesang auf den Abgrund, der sich jäh auftut.
„Mein Hirn denkt ohne mich“ (71) deutet auf einen Zustand hin, in dem die Gedanken sich verselbständigt haben. Nicht umsonst wird von Dekomposition gesprochen, wenn das Gedicht seine Schraffur verliert.
Während im der Abteilung „Selbsterschaffung“ die Gedichte auf ein Losungswort zusteuern, das unten im Gedicht in Klammern gesetzt wird, stehen diese Schlüsselwörter im Kapitel der „Einkleidungen“ an vorderster Stelle, sie werden als Wegmarkierungen gesetzt, die sich auf lyrischem Pfad leise ansteuern lassen.
In einem „Kunst-Nachwort“ sind alle Verfahrensvorgänge aufgehoben und zu einer Bewegung eines Kreisels transformiert, die Drehbewegung löst selbst bei der fiktiven Autorin Staunen aus. „Der Titel ist ein Rätsel, auch mir selbst, Gedichte ohne ich heißt er, das wusste ich von Anfang an.“
Der Gedicht-Essay über das Lesen und Schreiben als Kreisel endet in einem Gedanken, der sich während seiner Drehbewegung in sich selbst auflöst: „ich trage ab / die schichten schlicht / den kern ummantelt / ein gedicht // mich / gibt es / nicht.“
Kirstin Breitenfellner, Gedichte ohne ich. Sonette
Innsbruck: Limbus Verlag 2024, 96 Seiten, 15,00 €, ISBN 978-3-99039-249-5
Weiterführende Links:
Limbus Verlag: Kirstin Breitenfellner, Gedichte ohne ich
Wikipedia: Kirstin Breitenfellner
Helmuth Schönauer, 17-06-2024