Ilse Kilic / Fritz Widhalm, Chronik der kleinen Gedanken
Falsch ist immer möglich. – Diese Nebenwirkung einer „Chronik der kleinen Gedanken“ ist auf der Hinterseite des Buchumschlags abgedruckt, während einem vorne zwei übereinandergelegte Augen entgegen zwinkern, offensichtlich als erhellender Tandem-Blick des Autorenpaars eingefangen. Ilse Kilic und Fritz Widhalm stellen sich mit ihren „Fußnoten zur Weltgeschichte“ zwischen alle gängigen Genres, das Thema ist ihre eigene Biographie im Lichte des Weltgeschehens.
Als Hintergrund dieses Unterfangens summt ein Ohrwurm sich selbst zur Melodie „Tanz mit mir in den Himmel hinein.“ Der Schlussrefrain erklärt das Phänomen der Weltchronik: „Schlussatz: / Ilse und ich sind kein Paar, / Ilse und ich sind ein Tanz.“ (69)
Als vergängliche Kunst sind daher die 38 Texte und Bilder zu lesen, die sich in ihrer Beschriftung vage das geheime Ordnungsprinzip jenes Alphabet halten, das Kunstwerke zwischen A wie BAD und ZU VIEL zähmen soll. Und tatsächlich läuft in der Kunst alles auf das Alphabet hinaus, dem sich zu unterwerfen hat, was in einem Katalog zum Vorschein kommen will.
Die einzelnen Aufblendungen der Chronik sind im Register schmunzelnd zusammengeschrieben, ergeben sie doch selbst ein Layout-Kunstwerk, das einem zarten Gedicht ähnelt.
Genres, Epochen und Stilrichtungen sind durch die beiden Helden-Personen Ilse und Fritz miteinander verknüpft und zeigen, wie mannigfaltig Allround-Kunst-Menschen unterwegs sein können, wenn sie das Leben als Kunst begreifen, um anschließend daraus das Leben abzuleiten.
Der Anfang dieser Kunsttheorie wird zuerst auf den bloßen Buchstaben A zusammengeschmolzen, damit er einen guten Start im Alphabet hat. Anschließend wird vermutet, dass das A vielleicht ein herausgefallener Buchstabe der Kombination BAD ist, und tatsächlich lassen sich innerhalb der gleichen Sekunde die Begriffe für die sanitäre Einrichtung und die englische Bezeichnung von schlecht schlüssig verwenden. Gleichzeitig erweist sich der Diskurs über das A als Ideenfindung zur idealen Kinderzeichnung, bei der nur eines verpflichtend vorgegeben ist: Hinten auf der Zeichnung muss draufstehen, was vorne zu sehen ist. Im Konkreten Fall heißt die Zeichnung wirklich BAD.
In ähnlichen Konstellationen sind Kunstwerke über DADA, räumliche Empfinden und historisierende Trugschlüsse ausgestellt, wenn es um das Wesen der Rückseite, den Dackelhund DADA und die extraterrestrische Herkunft geht.
Literarische Figuren können sich nämlich von hinten, aus dem DADA oder einer fernen Welt anschleichen, um ganz selbstverständlich im Buch und auf dem Papier Platz zu nehmen. Wenn diese magische Eigenschaft des Anschleichens Figuren und gezeichneten Personen zu eigen ist, dann ist zu vermuten, dass auch Ilse und Fritz von diesem kreativen Brei gegessen haben, ihre Herkunft wird so als märchenhafte Fußnote dargeboten.
Texte und Bilder haben einen subtilen Drive, sie sind fast alle Liebestexte und Liebesbilder im romantischen Sinn. Aus dem bloßen Gedankenspiel über die Hand, die durch eine zweite Hand zu Händen wird, erwächst ein erotisches Gedicht über die Nacht, in der die Hände allerhand performen, um die Dunkelheit in Scheiben zu schneiden. Die angefügten Fußnoten machen die Erotik umso heftiger, als sie nichts erklären, sondern semantische Seitenäste beim Tasten entsperren.
Zwei Passbilder von Ilse sind ihrem polizeilichen Grundsinn der Identifikation entstiegen und zu zeitlosen Ikonen geworden, die emblematisch zeigen, dass die Zeit jeweils stillsteht, wenn sie auf ein Gesicht trifft.
Jede Zeit hat so ihren Kopf. (33)
Zwischendurch ufert das Rüstzeug für Gedichte zu satter Prosa aus und verkleidet sich als Sandstrandbericht aus Kanataki (38). Fritz lässt die Prosa jäh hinter sich und zeichnet sich, den Strand und Griechenland, während Ilse am Computer sitzt, aber da spielt das Bild bereits in Triest. Es bleibt der Subtext, auch wenn alles andere schon verschwunden ist.
„Wir sind, wir waren hier, Fritz hat ein Bild gezeichnet, das Meer ist zu sehen, Fritz ist zu sehen, Kanataki ist zu sehen, die Sandbucht, die im Jahr 2004 vollkommen vom Meer abgetragen worden ist, warum auch immer.“ (39)
Das Verschwinden der Dinge und Geschehnisse kann durch die Magie der Chronik gerettet werden. In der Erinnerung reicht es oft nicht einmal mehr für das ganze Wort, der Spaziergang bricht noch vor der letzten Silbe ab und wird zu einem „Sonntagsspazier“ (62), das volle Wort hat es nicht mehr in die Erinnerung geschafft, jetzt ist daraus ein Befehl geworden. Aber die Chronik löst mit einer Fußnote alles auf. Sonntagsspazier ist ein Lied von Georg Kreisler.
An die Grenze der Sinnesorgane führt das Abschlussgedicht „Zu viel“ (85). „Zu viel wissen, / ich glaub nicht daran. / Oder vielleicht doch. […] Zu viel bedeutet, / einen nicht erkennbaren Mund, / der sich oft widerspricht. […] Zu viel ist ein Bild mit / unter anderem sehr / großen Augen.“
„Die Chronik der kleinen Gedanken“ stellt sich zwischendurch selbst in Frage, wie aus den „Fußnoten zur Weltgeschichte“ hervorgeht. An besonders erregender Stelle ruft die Fußnote nach einem Rotstift, um das zu korrigieren, was sie erklären soll. Aber selbst in der zeitlosen Chronik herrscht Witterung, worauf sich alle verlassen können.
Und dann dreht / sich der Wind / und mich. / Luftzug. / ich bin / jetzt / usw. (71)
Ilse Kilic / Fritz Widhalm, Chronik der kleinen Gedanken. Fußnoten zur Weltgeschichte, mit Illustrationen
Wien: Edition Tagediebin 2024, 90 Seiten, 13,50 €, ISBN 978-3-903134-01-0
Weiterführende Links:
Edition Tagediebin: Ilse Kilic / Fritz Widhalm, Chronik der kleinen Gedanken
Wikipedia: Ilse Kilic
Wikipedia: Fritz Widhalm
Helmuth Schönauer, 09-06-2024