Andrej Blatnik, Der Tag, an dem Tito starb

Buch-Cover

Spitze Erzählungen fahren ins Blut wie Infusionen, es tut gar nicht weh und zagg, ist die Geschichte schon drin.

Andrej Blatnik setzt seine Spritzen beinahe schmerzfrei unter die Haut des Lesers, aber die Wirkung ist grandios. Ein Drummer klopft mit einem einzigen Schlag die Welt in ihre Musik-Atome auseinander, dabei ist die Musik generell sehr angenehm, das Publikum schwelgt in Wellness und wird wiederkommen.

Aber jemand setzt zu früh ein, das Strumpfband der Sängerin rutscht knisterfrei ein Stück ab, dem Trompeter drückt es die Glotzaugen aus der Gesichtsmembrane, für einen Moment verwandelt sich der Drumstick zu einem Prügel, aber dann wird es irgendwie wieder gut, der Drummer setzt seinen Schlag wie gewohnt auf die Schallfelge.

Dieses Einfrieren eines Augenblicks zu einer eruptiven Gegenwart weitet die Augen auf wie nach einer Impfung mit Tollkirschen, die Pupillen sind größer als die Welt, die durch sie schimmert, alle Sinnesorgane sind auf Empfang geschaltet, der Schlag des Drummers ist letztlich gedehnt bis in alle Ewigkeit.

Kratzer auf dem Rücken und Der Geschmack des Blutes sind Erzählungen, in denen das Ungeheuere ganz gewöhnlich zum Vorschein kommt, kleine Verletzungen, scheinbar beiläufig eingefangen, erweisen sich als großer Mund zur Außenwelt, die sich verzogen hat.

?Blatniks Charaktere sind vereinsamt, selbstzerstörerisch, verletzt oder auch gewalttätig und vor allem unfähig zu kommunizieren. Die Figuren sind nicht sprachlos, doch ihre Dialoge verkommen zu Monologen, ihre Stimmen verebben zu fast unhörbarem Flüstern?, heißt es in einem Ausriss aus dem Klappentext.

So ist auch die Titelgeschichte ?Der Tag, an dem Tito starb? eine stumme Verwechslung von gut gemeinten Abläufen. Als Tito stirbt, wird das Kind jäh aus dem Spiel gerissen, im Fernsehen kommt die vorbereitete Trauerstimmung nicht so recht auf, denn für das Kind wird die Staatstrauer zu einem Kanten Brot, der langsam im Mund zergeht. Später soll das Kind in der Schule noch etwas Staatstragendes aufsagen, aber die Eltern schützen eine Krankheit vor, immerhin ahnen sie, dass es jetzt anders weitergeht im Lande.

Dieser Ruck in der Zeitgeschichte, mit dem der Vorhang einer Epoche unter die nächste geschoben wird, dieser Ruck dauert in der Kindheit nur einen Funken von Zeit, eben so lange, wie es braucht, um eine Spritze der Erinnerung unter die Haut zu setzen.

Andrej Blatnik: Der Tag an dem Tito starb. Und andere Erzählungen. A.d. Slowen. Von Klaus Detlef Olof. [Orig.: Menjave koz, Ljubljana 1990].
Wien, Bozen: Folio 2005. 129 Seiten. EUR 19,50. ISBN 3-85256-298-8.

 

Helmuth Schönauer, 26-05-2005

Bibliographie

AutorIn

Andrej Blatnik

Buchtitel

Der Tag, an dem Tito starb. Und andere Erzählungen

Originaltitel

Menjave koz

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2005

Verlag

Folio

Übersetzung

Klaus Detlef Olof

Seitenzahl

129

Preis in EUR

EUR 19,50

ISBN

3-85256-298-8

Kurzbiographie AutorIn

Andrej Blatnik, geb. 1963 in Ljubljana, lebt dort.