Martin Winter, WAH! 哇!
Ein Laut, ein Seufzer, ein Schnauben der Verachtung – in der Lyrik erwächst aus einem kleinen Zeichen ein großer Vorgang.
Martin Winter stellt das gesamte Jahr 2017 unter dieses Zeichen WAH!, das von vorneherein magisch wird, wenn es von drei Sprachen umkreist ist. Die Gedichte „handeln“ vom Ablauf eines Jahres und „spielen“ im Kopf eines lyrischen Ichs, das ständig zwischen den Sprachen hin und her schaltet. Um für die Leser ein wenig Orientierung anzubieten, sind die Texte in vier Sprachblöcke unterteilt. German Poetry (5) / English Poetry (81) / Chinese Poetry (125) / Mixed Up Poetry (143).
Da das Schlüsselgedicht „WAH!“ in allen Abteilungen vorkommt, ist zu vermuten, dass der Stoff der Gedichte in allen Sprachen ähnlich abgehandelt ist. Als Leitmotiv ist jedenfalls fix der Mond installiert, der als Lampion, Banane, Fenster oder Lichtquelle regelmäßig vorbeischaut. Womöglich unterliegt er einer eigenen Regel, wie das „Regelgedicht“ vermuten lässt.
„Ich habe die Regel / Werden Gedichte nur einfach abgegeben / und nicht abgeworfen / kann die Einrichtung / nicht berücksichtigt werden. // Werden mehr als 5 Gedichte abgeworfen, / kann die Einrichtung nicht berücksichtigt werden. // Pro Person ist nur eine Einrichtung zulässig. // Oben rechts ist eine fünfstellige Zahl zu schreiben, / die sich auch oben rechts wiederfindet! // Hochachtungsvoll / Keine Originale!“ (27)
Mond oder Gedicht, alles unterliegt einem geheimen Regelwerk, das als lyrischer Prozess ausgelegt werden kann. Das Einreichen eines Gedichts für einen literarischen Wettbewerb lässt sich ebenso romantisch deuten wie das Schimmern des Mondes im eigenen Licht. Diese Konstellation lässt sich in allen Sprachen verwirklichen, oft besteht der Sinn auch in der Deviation von der üblichen Lesedeutung, vielleicht ist Einrichtung in einer anderen Sprache als Einreichung gemeint. Vielleicht ist die Ordnungszahl oben rechts im Augenblick ihrer Dechiffrierung jene Banane, die nächtens als Sichel beim Fenster des Lyrikers hereinschaut.
Das Titelstiftende Eingangsgedicht lässt jedenfalls allzeit spontane Deutungen zu. „WAH! // wah! wah! wah! / wah! wah! wah! / wah! wah! wah! / bitte nicht alles wahrnehmen! / bitte nicht alles wahrnehmen! / wah! wah! wah! / wah! wah! wah! / wah! wah! wah!“ (7)
Von dieser Nullachse der Wahrnehmung ausgehend zeigen sich emotionale, intellektuelle und politische Spitzen auf jenem Diagramm, das über Monate als lyrisches Dauer-EKG angelegt ist.
Stationen eines Schnelldurchlaufes durch das Jahr sind eine Lesung beim PEN Austria, der mit den USA verglichen wird, die gerade an die Wand gefahren werden. In einem Sprachspiel auf Chinesisch wird das Ich zu einer Frau, die sich Leo nennt. Ein Vorschlag eines gewissen Kurz, der gerade die Medien dominiert, lautet: Flüchtlinge halbieren. Der lyrische Gegenvorschlag: Kurz halbieren. (16)
Dem Sonnengesang nachempfunden breitet sich das Universum als pure Sonne aus. „In den Sonnen“ ist eine Großhymne, die das Layout sprengt. Um sie im Gedichtband unterzubringen, ist sie auf zwei Teile aufgeteilt und quer gesetzt. (24)
Über eine andere in den Medien herumgeisternde Figur wird als beiläufige Vermutung gefragt:
Kern / hat der Kern einen Kern? (29)
Zum ersten Mai erscheint punktgenau ein Arbeitsgedicht. „Takt der Arbeit // was ist der Takt der Arbeit? / […] / ein Takt / eine Nacht / 1. Mai 2017.“ (45)
Zwischendurch wird der Arbeitsablauf als Lyriker ständig kontrolliert und fallweise in Frage gestellt. Freilich gibt es dabei auch einen hinreißend optimistischen Befund: „ Fertig // meine Gedichte / sind fertig / es sind vollkommen fertige / Gedichte. / Ich will nichts anderes / damit sagen.“ (59)
In dieser Tonart geht es nach dem Switch ins Englische weiter, Poetry, Moon Poem, Report, Overhead und WAH!, das auf Englisch gleich klingt wie auf Deutsch. (90)
Das Chinesische lässt sich ohne entsprechende Ausbildung nicht entziffern, aber das Titel-Zeichen wirkt beeindruckend. 哇!
Im Sektor Mixed-Up Poetry greifen die Sprachen noch einmal simultan ineinander über, sie beschreiben disparate Sachverhalte, deren Treffer wie auf einer entgleisten Suchmaschine sich zu Poesie verformen.
„bremen, los angeles, shanghai, taipei / sand an light / sea / riga, what did they do in the war / extended families / I write in german and in chinese“ / (157)
Rätselhaft, heiter und realistisch! – Das ganze Jahr 2017 wird zu einem hellen Genuss, ehe es ins Stadium des Archivierens hineinwächst und verschwindet.
Martin Winter, WAH! 哇! Gedichte in drei Sprachen. Geschrieben im Jahr 2017, Englisch, Deutsch, Chinesisch, übers. von Martin Winter
Wien: edition fabrik.tranisit 2023, 168 Seiten, 13,00 €, ISBN 978-3-903267-63-3
Weiterführende Links:
edition fabrik.tranisit: Martin Winter, WAH! 哇! Gedichte in drei Sprachen
Wikipedia: Martin Winter
Helmuth Schönauer 02-07-2024