Vladimir Pistalo, Millennium in Belgrad

Buch-Cover

Ein Millenniums-Sprung garantiert immer eine gewisse Veränderung, auch wenn sich letztlich nichts verändert. Allein schon die Erwartung einer neuen Epoche lässt alles Geschehene als neu erscheinen, wenn sich nur die passende Jahreszahl dazu einstellt.

Vladimir Pistalo erzählt in seinem Roman von der unverwüstlichen Stadt Belgrad, die auch das neue Jahrtausend in irgendeiner Form über die Runden der Geschichte bringen wird. Was immer auch in Zukunft geschehen wird, es wird eine Kleinigkeit gegen diesen Schock sein, den der Tod Titos ausgelöst hat.

Eine Gruppe Jugendlicher wird 1980 durch den Tod Titos in das eigene Leben gebeamt. Eben noch hat man die Herztöne des Sterbenden im Radio übertragen, jetzt ist er tot und das Land versinkt in Agonie. Nicht jedoch die Jugendlichen, sie erleben endlich gute Musik, gute Drogen und gewaltigen Sex. Alles, was der eigenen Befreiung zugeschrieben wird, ist vielleicht auch eine Befreiung des Landes.

Wenn sich über Nacht die Verhältnisse ändern, wird das gerne einem mysteriösen Überbau zugeschrieben. Im Falle Belgrads ist es das bevorstehende Millennium, das alles Denken, jedes Lebensgefühl, ja jede Handbewegung zukunftsfroh in eine optimistische Richtung deutet.

Aber die Realität schlägt völlig anders zurück. Die Nationalitäten bilden eigene Staaten, alle bisherigen Verbindungen werden zerrissen, die Stadt Belgrad wird im wahrsten Sinn ein Trümmerhaufen. Keine Kultur kann diese auseinanderstrebende Gesellschaft zusammenhalten.

Zwar erleben die Jugendlichen individuelle Glücksmomente, wenn sie etwa anlässlich des Millenniums im Beisein der Eltern den schönsten Sex des Jahrhunderts zelebrieren, aber dann ist das System auch schon wieder so weit zerfallen, dass es für den Einzelnen keinen Halt mehr gibt. Die Welt hat eine eigene Realität geschaffen.

Alles, was uns widerfuhr, wurde zunächst im Fernseher gemeldet und schaffte von da an den Sprung ins Leben. Der Fernseher bildete die Ereignisse nicht ab, er schuf sie. (139)


Überhaupt wird der Irrsinn des Landes von den Medien modelliert. "Jede einzelne Familie hatte zumindest einen Faschisten im Wohnzimmer stehen. Das war der Fernseher". (94)
Vladimir Pistalo erzählt in Interviews mit der historischen Stadt Belgrad, mit Verwandtschaftsverläufen quer über das agrarische Land, mit Mailverkehr von Ausgewanderten in New York, mit kulturellen Inszenierungen von Millenniums-Mythen vom Brodeln Belgrads an der Bruchlinie von Tito-Vergangenheit und Todeszukunft.

"Ich bin Belgrad. Es ist wieder Krieg". (262) Die Einschätzung der Zukunft ist nicht gerade rosig, aber der Ich-Erzähler gibt nicht auf. "O, wird mein Traum im neuern Millennium endlich mein Zuhause?" (268) - Ein scharf geschnittener, unbarmherziger Roman über den Mythos einer neuen Zeit.

Vladimir Pistalo, Millennium in Belgrad. Roman. A. d. Serb. von Brigitte Döbert. [Orig.: Milenijum u Beogradu, Agora 2009].
Berlin: Edition Balkan Dittrich 2011. 268 Seiten. EUR 16,80. ISBN 978-3-937717-61-6.

 

Weiterführender Link:
Edition Balkan Dittrich: Vladimir Pištalo, Millennium in Belgrad

 

Helmuth Schönauer, 16-01-2012

Bibliographie

AutorIn

Vladimir Pistalo

Buchtitel

Millennium in Belgrad

Originaltitel

Milenijum u Beogradu

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2011

Verlag

Edition Balkan Dittrich

Übersetzung

Brigitte Döbert

Seitenzahl

268

Preis in EUR

16,80

ISBN

978-3-937717-61-6

Kurzbiographie AutorIn

Vladimir Pistalo, geb. 1960 in Sarajevo, lebt in Massachusetts und Beograd.