Die Silbentreppe spricht quasi als einzelnes Wort alle Sinne an. Auf dem poetischen Bildschirm der Lektüre sehen wir eine silberne Glitzershow, auf der die Gefühlskristalle zu flirren beginnen, während sie zu uns herabsteigen. Als Graphik nimmt die Silbentreppe einen graphitenen Glanz an und schwärmt über den Seiten aus. Und als Gedicht schließlich beginnen die Silben zu klirren wie ein Windspiel im Morgenlicht.
Angelika Stumvoll arrangiert Gedichte und Bilder in Blöcken, wobei sich die Struktur sowohl der Bilder als auch der Gedichte zunehmend verdichtet. Öfters sind Texte zuerst als Schriftbild eines Gedichtes zu sehen, in einem nächsten Block taucht dieses Gedicht dann als „graphische Skulptur“ auf, wie etwa das Titel gebende Silbentreppe. Aus dieser Gedicht-Graphik-Komposition lässt sich das Grundkonzept für die Anordnung von Silben und Silben-Pixeln herauslesen.
„1. die kunst / 2. die zeit die zwiebel / 3. die wahl die wolke die wissenschaft / 4. die list die stille die melodie die silbentreppe / 5. die not die nachricht die nachteule die nähmaschine die schneehasenfalle / 6. die haut die hexe die heilquelle die wäscheleine die trachtenstickerei die marienerscheinung / 1. die kunst“ (8) Das Gedicht schwillt letztlich an wie das Inhaltsverzeichnis einer wissenschaftlichen Arbeit, es verbreitet sich, bis es wiederum jenen Begriff evoziert, der alles zusammenhält: Die Kunst. – Der Text taucht später als graphisches Manifest auf, in Gestalt eines Flugblattes, das auf einer alten Schreibmaschine komponiert worden ist.
Gedichte und Bilder schwellen während des Bandes an, und quellen zu komplexen Gebilden auf. Aus einfachen Strichzeichnungen, wie wir sie mit Höhlenzeichnungen in Verbindung bringen, erwachsen ganze Struktur-Gemälde, in die Texte eingearbeitet sind, mal als Notiz, dann als Tagebucheintrag und schließlich als Konzept für einen öffentlichen Akt.
Die Gedichte der ersten Sektion setzen sich aus Einzelwörtern zusammen, die wie für eine erste Stoffsammlung assoziativ untereinander gereiht sind. Mit jedem Schub, der durch Bilder beschleunigt ist, werden die Texte umfangreicher und verzweigter, bis sie schließlich in einem Sektor enden, worin ganze Geschichten als poetische Sketches auf die Bühne drängen.
In einem Nachtrag sind Würdigungen und Hommagen untergebracht, welche sich auf Brigitte Schwaiger, Anselm Kiefer oder Rainer-Maria Rilke beziehen, die offensichtlich entscheidende Sequenzen kuratiert haben.
Der Vorgang des Schreibens wird in einem Doppel-Seiter konzise vorgetragen, das lyrische Ich spricht scheinbar in einem inneren Monolog, aber der Duktus ist extrovertiert, so sprechen Künstler, wenn sie im öffentlichen Raum um ihr Werk ringen.
„ich schreibe / weil / ich nicht erzählen / werde / was wahr ist // aus jedem satz / auf dem gedenkstein / mache ich / eine geschichte / die wahr / oder ganz anders gewesen sein kann / wahr für mich / meine geschichte // ich erinnere mich dunkel / an gefühle / das malen von bildern / ich knüpfe aus fragmenten / ein fadenkreuz / vielleicht nur zufällig / richtig // auf dem papier ist / alles verbunden / es ist klar / dass es sich genauso /zugetragen haben muss [...]“ (156/157)
Durch diese Gebrauchsanweisung für die Lektüre erschließt sich auch die Verbindung von Gedicht und Bild, beide sind wahr, weil sie auf dem Papier stehen.
Die Texte spülen an unerwarteten Stellen Nachdenk-Nuggets hervor, die man bei noch so heftigem Auswaschen des Flusses nur findet, wenn man dem Zufall eine Chance gibt.
„beim Blättern in musterbüchern finde ich meinen augenblick ausgeschnitten“ (111) – dieses jähe Loch, das vielleicht im Buch beim Durchblättern als destruktive Leerstelle auftaucht, gilt übrigens unter Bibliotheksmenschen als das Schlimmste, was einem geschehen kann. Anstelle eines kostbaren Augenblicks, den es auszulesen gilt, klafft ein Loch, von dem niemand sagen kann, wer es ins Musterbuch hineingetan oder herausgeschnitten hat.
Dieses Spiel mit unerwarteten Kulminationspunkten von Linien und Flächen zeigt sich ständig in den Überraschungszonen, mit denen die Bilder grundiert sind.
Die Silbentreppe ist ein Spiel mit Kleinodien der Imagination, scheinbar bestens durchkomponiert lässt sich nichts über ihre Tragkraft sagen, außer dass diese von langer Hand geplant und konzipiert ist.
„am schreibtisch / der blick / aus dem fenster / in ein loch / aus fünfundvierzig jahren / unterbrochen / von einem vogel / aus blech“ (85)
Da ist er endlich, der Vogel, der in jeder bemerkenswerten Lyrik vorkommen soll, grotesk als Blech ausgeführt, gibt er dem Kunstwerk eine Leichtigkeit, die von Ironie getragen ist.
Angelika Stumvoll, Die Silbentreppe. Gedichte
Wien: edition zzoo 2025, 175 Seiten, 23,00 €, ISBN 978-3-902190-64-2
Weiteführende Links:
Homepage: edition zzoo
Der Kunstraum – Angelika Stummvoll
Helmuth Schönauer, 18-06-2025