Udo Kawasser, tarquinia – gespräche mit schatten

h.schoenauer - 21.11.2025

Udo Kawasser, tarquinia – gespräche mit schattenLyrik sucht zwischendurch sogenannte lost places auf, worin sie mit den Augen einer überreizten Gegenwart in den Bildern abgeschlossenen Verfalls wühlt. Udo Kawasser siedelt sein Poem rund um die etruskische Stadt Tarquinia an, die neben den Gebilden der Gegenwart vor allem aus Ausgrabungen, Mythos, historischen Befunden und Artefakten des Totenkultes besteht. Wo immer eine lyrische Messstation im Gelände aufgestellt wird, versammelt sich sofort poetische Materie drum herum.

Das Projekt ist mit dem Untertitel versehen: „Gespräche mit Schatten“. Sobald die Sendequelle ihren fragenden Schall in die Vergangenheit richtet, reagieren diverse Echos, Zeitbrüche, Rotverschiebungen und mineralische Verwerfungen auf die anfragende Stelle.

Das Poem tritt dabei in Echtzeit als Performance auf und hinterlässt gleichzeitig Daten und Graphen für die archivarische Auswertung des Erforschten.

Das Poem Tarquinia zeigt sich in sechs Cantos (Canti), die jeweils von sechs Grundelementen der Archäologie zu einem Variantenreigen über Liebe, Tod und Landschaft gestaltet sind.

Diese Grundelemente sind

  • Kohle
  • Kreide
  • Lapislazuli
  • Ocker
  • Rost
  • Umbra.

Ein Ausriss aus einem alten Glossarium erläutert diese sechs Grundzustände Etruskischen Totenkults, indem die farblichen und mineralischen Adern quer durch die Geschichtsschreibung verfolgt werden.

Unter anderem ergibt sich daraus die Technik des Freskos, worin ein Zustand während der Konstruktion eines Bildes zusammen mit dem aufgetragenen Putz eingefroren wird.

Das Poem variiert die Farbtöne und formt daraus eine Gedächtnismelodie, vergleichbar einer seriellen Komposition, die auf eine unendliche Zahl von Realisierungsmöglichkeiten anspielt.

Das Poem selbst geht in kurzen Sätzen an dieses Gewabere aus Zeit, Unendlichkeit und Fragilität heran. „ocker // in dieser verwandtschaft / von fahrt und begreifen / verhalten / die einfahrt des zuges / über jäh / gestellte weichen / das wandern des waggons / auf den gleisen /als würde alles / noch einmal zurechtgerückt […]“ (13)

In diesem Eingangsbild einer Anreise mit dem Zug treffen Erwartung, angelesene Philosophie und vorbereitete Reiseroute aufeinander. Die Annäherung des Reisenden an die philosophischen Gedankenteppiche, die über diese Kulturlandschaft gelegt sind, lässt triviale Erlebnisse des Reisens in verschlungenen Überlegungen zwischen Leben und Tod zu einem Poem heranwachsen.

In einer Gebrauchsanweisung werden im Buch-Vorspann Lukrez und Epikur angeführt, dass sie Leser und Autor als tastende Personen begleiten. Epikur ist bekannt für eine Weltsicht ohne Götter, Lukrez wird mit seinem Hauptwerk „Über die Natur der Dinge“ zitiert.

Die Reise an die historische Stätte dient einerseits als Arena der Erleuchtung, worin diese Thesen durch die Jahrhunderte inszeniert sind, andererseits als Begründung für ein Leben in der Gegenwart, in der es ohne diese wagemutigen Gedankengänge auszukommen gilt.

Denn die alten Philosophien haben zwar die Zeit überdauert, aber es ist nicht sicher, ob sie „zur Zeit“ noch etwas taugen.

Wie die erste Sequenz ist auch die letzte Seite des Poems dem „ocker“ gewidmet. „wir betreten / landschaften / anfangs immer / von der falschen seite / aber ich dachte / nach der ankunft / würde sich das alleinsein / aufzuheben beginnen / würden wir wieder / am fenster stehen / vor dem die landschaft / ausschwingt / […] / in diesem licht / in diese landschaft / hineingehen / wir würden ganz nah / an der haut beginnen / bis zur neige / als sich der riss / in den wolken schloss / die luft zu körnen begann / oder war es asche /die durch die luft wirbelte / keiner von uns wusste / dass ‚morgen / um diese zeit‘ / kein wahrscheinlicher satz / mehr war / für uns“ (87)

Udo Kawassers Poem Tarquinia ist ein synchronisierter Reisebericht zwischen Gegenwart und Antike, wo das vorausgeeilte Ich wartet in Bildern einer erhabenen Landschaft, gemalt aus Ocker und Rost.

Udo Kawasser, tarquinia – gespräche mit schatten. Poem. Mit Illustrationen des Autors
Innsbruck: Limbus Verlag 2024, 96 Seiten, 15,00 €, ISBN 978-3-99039-255-3

 

Weiterführende Links:
Limbus Verlag: Udo Kawasser, tarquinia – gespräche mit schatten
Wikipedia: Udo Kawasser

 

Helmuth Schönauer, 27-09-2025

Bibliographie
Autor/Autorin:
Udo Kawasser
Buchtitel:
tarquinia – gespräche mit schatten
Erscheinungsort:
Innsbruck
Erscheinungsjahr:
2024
Verlag:
Limbus Verlag
Illustration:
Udo Kawasser
Seitenzahl:
96
Preis in EUR:
15,00
ISBN:
978-3-99039-255-3
Kurzbiographie Autor/Autorin:
Udo Kawasser, geb. 1965, lebt in Wien.