Bernd Cailloux, Das Geschäftsjahr 1968/69

Buch-Cover

Nirgendwo wird so getrickst wie in den Bilanzen eines Geschäftsjahres. Scheinbar nüchterne Berichte sind hintennach betrachtet oft die größte fiktionale Kunst. Was liegt also näher, als aufregende Emotionsschübe einer Pop-Flop-Spot-Welt von 1968 in das Kleid eines Geschäftsjahres zu stecken.

Bernd Cailloux knüpft seinen Helden von damals Manschettenknöpfe einer wirtschaftlich seriösen und prosperierenden Lebensstrategie in die aufgekrempelten Ärmel.

Tatsächlich finden sich ein paar Figuren, die sich zwischen Bundeswehrkriechübungen und journalistischen Flachstorys durch die Sechziger Jahre bewegen, zum entscheidenden kulturellen Durchbruch zusammen. Erfunden wird eine Zauberkugel, mit der man in psychodelischen Diskotheken das passende Stroboskoplicht auf die Wände projizieren kann, während in den Adern die Heroinperlen kreisen.

Im Geschäftsjahr 1968/69 setzt sich diese Erfindung sagenhaft trendy durch, schwappt in die Werkstätten der zeitgenössischen Künstler und Denker und kristallisiert in der Fettkunstwelt von Beuys zu einem imaginären Globus, auf dem sich alle Künste der Bundesrepublik zuckend und flunkernd eingefunden haben.

Als Leser kriegen wir einen kalt gehaltenen Bericht einer hitzigen Zeit, in der die Protagonisten oft nicht wissen, ob sie den nächsten Tag noch erleben würden. Die Kunstmetropolen Essen, Düsseldorf und Köln zucken um das politisch provinzielle Bonn herum, und Tag und Nacht werden schnelle Kunstflashes und politische Einweg-Thesen in die wabernde Szenerie geworfen.

Die Helden des neuen Disko-Lichts erleben am eigenen Leib eine kapitalistische Beschleunigung, die ihnen die pazifistischen und humanistischen Ohren nur so wackeln lässt. Plötzlich wird aus einer freundschaftlichen Geschäftspartnerschaft der kleinen Erfinder eine Expansionsbestie, die ihre Inhaber und Betreiber restlos zerstört.

Bernd Cailloux’ straffer Roman ist eine tolle Methode, ehemals hitzige Zeiten für die Nachwelt auf konstant erträgliche Temperatur herunter zu fahren. Die Milde der Nachwelt verzeiht den überdrehten Zeitgenossen von damals so gut wie alles.

Aus dem Geschäftsjahr wird letztlich eine Aufzeichnung von Geschäftigkeiten, die für sich genommen sinnlos und ameisenhaft hektisch wirken, als Ganzes aber einen satten Hügel von dynamischen Ablagerungen ergeben. Seht her, dieser ganze Erlebnishaufen von damals, das waren wir, scheinen die Protagonisten zu sagen, ehe sie ihre eigenen Bilanzen für immer ins Regal stellen.

Bernd Cailloux, Das Geschäftsjahr 1968/69. Roman.
Frankfurt/M: Suhrkamp 2005. ( = es 2408). 253 Seiten. EUR 10,-. ISBN 978-3-518-12408-6

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp-Verlag: Bernd Cailloux, Das Geschäftsjahr 1968/69
Wikipedia: Bernd Cailloux

 

Helmuth Schönauer, 23-04-2006

Bibliographie

AutorIn

Bernd Cailloux

Buchtitel

Das Geschäftsjahr 1968/69

Erscheinungsort

Frankfurt

Erscheinungsjahr

2005

Verlag

Suhrkamp

Seitenzahl

253

Preis in EUR

EUR 10,-

ISBN

978-3-518-12408-6

Kurzbiographie AutorIn

Bernd Cailloux, geb. 1945 in Erfurt, lebt in Berlin.