Juri Andruchowytsch, Moscoviada

Buch-Cover„Diese Stadt hat nichts mehr zu verschenken. Es ist eine Stadt der Verluste. Es ist die Stadt der tausendundeinen Folterkammer. Stadt von Syphilis und Hooligans. Es wäre gut, sie dem Erdboden gleichzumachen. Wieder die dichten finnischen Wälder zu pflanzen, die es früher hier gab.“ (89/90)

Klar, diese Stadt kann nur Moskau sein, unregierbar längs zur Geschichte und quer zum Zeitgeist positioniert, anarchistisch üppig und dogmatisch kastriert, ein Unding, das letztlich nur eines produziert: Stoff und Stoff und Stoff für die Literatur.

Im Moskauer Gorki-Institut sitzen poetische Volksvertreter, sprich Dichter, und komponieren für ihre neuen Heimaten patriotische, chauvinistische, mystische, vor allem aber abgefackte Literatur. Die Sowjetunion ist gerade zerfallen, aber die Hauptstadt Moskau hat das noch nicht mitbekommen.

So laufen einerseits noch die öffentlichen Rituale des ehemaligen Großreiches ab, während frisch aus dem Untergrund aufgetaucht bereits die neuen Herrschaftsschichten durch das Kanalsystem fluten. Moskau ist auch oberirdisch ein einziges Fäkalsystem, das irgendwie spiegelverkehrt zur Unterwelt etwas Funktionierendes bei Tageslicht spielt.

Der ukrainische Dichter Otto von F. leidet als Literaturstipendiat an den Kollegen, die laut, finster und knüll voll das Literaturinstitut bevölkern. Obwohl er mit seiner patriotischen Sage an die heroische Ukraine zwischendurch ganz gut vorankommt, indem er fallweise die hervorragende Lyrik von Juri Andruchowytsch zitiert, wird er doch immer wieder von den Geschichten und Spülungen Moskaus abgelenkt und zu ungewollten Ufern getrieben.

Als Leser wird man stracks in diesen Strudel mitgezogen, in dem sich Kriminalität, Anarchie und diffuse Prosperität gegenseitig aufschaukeln. Zum magischen Kosmos der Großstadt gesellt sich ein historisierender Zynismus, mit dem Geheimdienste, Sowjetunion, politische Intrigen und atmosphärische Häcksel aus dem Innern eines zerfallenden Reichs dargestellt werden. Moscoviada wird zu einem realen Imaginationsfeld, ähnlich Don DeLillos höllischem Müllmythos Underworld.

Juri Andruchowytsch hat diesen Roman wie besessen als befreites Dichter-Tier 1992 im bayrischen Feldafing geschrieben. Der Roman ist ursprünglich in Zeitungen erschienen, ehe er als der Befreiungsroman der Ukraine seinen Siegeszug durch die literarische Welt angetreten hat. Für die deutsche Erstausgabe 2006 ist ein Glossar angefügt, worin die häufigen Anspielungen im Text politisch entschlüsselt werden. Ein in Rätseln verästelter Roman, den man gleichsam ober- wie unterirdisch lesen muss.

Juri Andruchowytsch, Moscoviada. Roman. A. d. Ukrain. von Sabine Stöhr. [Orig.: Moskoviada Kiew 1993].
Frankfurt/M: Suhrkamp 2006. 222 Seiten. EUR 22,80. ISBN 978-3-518-41826-0

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp-Verlag: Juri Andruchowytsch, Moscoviada
Wikipedia: Juri Andruchowytsch

 

Helmuth Schönauer, 21-07-2006

Bibliographie

AutorIn

Juri Andruchowytsch

Buchtitel

Moscoviada

Originaltitel

Moskoviada

Erscheinungsort

Frankfurt a. M.

Erscheinungsjahr

2006

Verlag

Suhrkamp

Übersetzung

Sabine Stöhr

Seitenzahl

222

Preis in EUR

22,80

ISBN

978-3-518-41826-0

Kurzbiographie AutorIn

Juri Andruchowytsch, geb. 1960 in Iwano-Frankiwsk/Westukraine, dem früheren galizischen Stanislau, lebt in Iwano-Frankiwsk.