Roman

Giancarlo De Cataldo / Carlo Bonini, Die Nacht von Rom

h.schoenauer - 22.10.2017

Als die scheinbar ewigste Stadt der Welt besteht Rom einerseits aus lauter Kleinodien triefend vor Geschichte, andererseits aus brutalster Schwarzweiß-Szenerie wie in einer vom Staat aufgegebenen mexikanischen Stadt.

Giancarlo De Cataldo und Carlo Bonini kriegen ihren Stoff Nacht für Nacht vor die Haustüre gekarrt, sie brauchen im Prinzip bloß sorgfältig die Fälle aus Justiz und Chronik abzuschreiben und haben schon einen Thriller. „Die Nacht von Rom“ ist eine Fortsetzungsgeschichte ohne Anfang und Ende, nicht einmal die Helden wissen in diesen Folgen, ob sie dieses Mal die ultimative Macht an sich reißen können oder unter Folter liquidiert werden.

Kateryna Babkina, Heute fahre ich nach Morgen

h.schoenauer - 19.10.2017

Bevor die Chose mit dem echten Leben losgeht, gibt es für die Helden meist noch einen Erlebnisrausch, worin Ort, Zeit und Ziel völlig egal sind.

Kateryna Babkina schickt die Heldin Sonja in diese Zone, worin man täglich die Unschuld verliert, das Staunen nicht auf die Reihe kriegt und schwerelos über den Kontinent schwebt. Sonja ist Solala-Künstlerin, sie malt eher Icons als Ikonen, wie sie einmal sagt, und schlängelt sich durchs ukrainische Leben, das ziemlich hart sein soll, wenn man es ernst nimmt.

Almut Tina Schmidt, Zeitverschiebung

h.schoenauer - 15.10.2017

Seit die Menschen Tag und Nacht online sind, heißt die häufigste Formel der Begegnung: Können wir den Termin verschieben? Dahinter steckt die Ahnung, dass man die Zeit nur besiegen kann, wenn man sie verschiebt.

Almut Tina Schmidt setzt ihre Ich-Erzählerin einem Gezeitensturm aus. Kaum wird etwas geplant, macht die Zeit was sie will, kaum ist die Zeit persönlich strukturiert, passt sie nicht mehr in die öffentlich verwaltete. Und die unbeantwortbare Frage lautet, wann ist der richtige Zeitpunkt für etwas gekommen?

Lily King, Vater des Regens

h.schoenauer - 05.10.2017

Wenn es nach den Forschungsdisziplinen Psychologie und Literatur geht, sind Vater und Tochter ausschließlich deshalb auf der Welt, damit sie Schwierigkeiten kriegen und dann einen Psychologen oder eine Bibliothek aufsuchen können.

Lily King beginnt ihr Kammerstück der Familienverhältnisse mit einer Idylle, und das bedeutet im Roman fast immer Schrecken. Die Ich-Erzählerin Daley kriegt zum elften Geburtstag ein Hündchen, aber schon als sie damit nach Hause kommt, ist klar, dass das Hündchen nicht ihr gehören wird, so wie der Pool nicht, den sie zum fünften Geburtstag gekriegt hat.

Joost de Vries, Die Republik

andreas.markt-huter - 26.09.2017

Das ganze Hotel voller Hitler-Experten, am Gang sieht man den niederländischen Rechten-Führer vorbeihuschen, in der Seitengasse werden in einem Antiquitätenladen originale Hitler-Devotionalien angeboten, am Heldenplatz imaginieren die Hitler-Forscher den Führer auf den Balkon – Wien ist für ein paar Tage der Austragungsort eines Welt-Hitler-Kongresses.

Joost de Vries tarnt seinen Roman mit einem unauffälligen Titel, es gibt kaum etwas Harmloseres, als die Republik in den Mund zu nehmen. Gegen Ende freilich klärt sich diese Harmlosigkeit auf, bei der Republik handelt es sich immer um etwas Schwaches oder gar einen Abstieg, der nach der Monarchie oder Diktatur ausgerufen wird. (255)

Don Winslow, Das Kartell

h.schoenauer - 19.09.2017

Im perfekten Roman ist die dargestellte Fiktion so wirklich, dass man damit in der Wirklichkeit etwas anfangen kann, auch wenn es keine Hilfestellung dafür gibt.

Don Winslows „Kartell“ ist natürlich ein Thriller, was die äußere Aufmachung und das Marketing betrifft, in seinem Kern ist der Roman aber ein Stück von der Hinterseite jener Währung, die uns im scheinbar fernen Europa als goldenes US-Wesen dargeboten wird. Im Gewusel aus hunderten Plots geht es um Krieg, feindliche Übernahmen, Scheinfirmen, Korruption und Gewalt. Die Schauplätze liegen zwar meist in einem Mexikanischen Bundesstaat, gesteuert wird das Ganze freilich direkt aus Washington heraus. Und wenn Mexiko für die Kriege zu klein wird, weicht man stracks in südliche Guatemala aus.

Johannes J. Voskuil, Das A.P. Beerta-Institut. Das Büro 4

andreas.markt-huter - 12.09.2017

Hinter dem lauernden Begriff „Büro“ verbirgt sich einer der größten Romane der internationalen Literaturgeschichte. Das Büro ist ein Kosmos voller Widersprüche, ein Ort vollkommenen Stillstands und eruptiver Lebensführung, ein Archiv, das Gegenstände aus dem Futur bearbeitet, ein kleingeistiges Emotionslabor, in dem die größten Freigeister ihren Gedanken nachgehen.

Johannes J. Voskuils „Büro“ lässt sich wie alle Giga-Romane durchgehend lesen, man kann aber wie in einer Endlosschleife überall zusteigen und liegt immer richtig. Der Plot der sieben Bände zu je tausend Seiten ist raffiniert einfach wie ein DNA-Bauplan. Der Protagonist Maarten Koning stellt sich eines Tages in einem Volkskunde-Institut vor, wird auf der Stelle genommen und kommt ein Leben lang nicht mehr aus dem Büro heraus.

Ludwig Laher, Überführungsstücke

h.schoenauer - 10.09.2017

Die große Welt leistet sich oft kleine Nischen, in denen sie in einer einzigartigen Anordnung ihre Geheimnisse zur Schau stellt. Das kann die berüchtigte Glasmenagerie sein, worin sich die Psyche der Sammlerin spiegelt, das Kramuri-Museum am Innsbrucker Bergisl, worin die Geschichte Tirols als Devotionaliensammlung angeordnet ist, oder eben eine Asservatenkammer, worin Stücke des Schreckens und der alltäglichen Kriminalität für die Hauptverhandlungen am Gericht aufbereitet werden.

Ludwig Laher lässt nach einem Fünfzeiler von Konrad Bayer, wonach alles etwas Andres bedeuten kann, ziemlich wortgewaltig und auf barocke Ausschweifungen fokussiert einem Asservaten-Beamten freien Lauf. Allein das Wort „asservieren“ (für amtlich bewachen) zeigt, dass der Held Oskar Brunngraber mit großer Hingabe alles auf der Welt betreuen kann, wenn es gewünscht wird.

Friedrich Hahn, Die Schaufensterfrau

h.schoenauer - 05.09.2017

Prekäre Arbeitsverhältnisse sind längst das täglich Brot einer ganzen Generation geworden und werden auch in der Literatur dementsprechend besungen. Aber gibt es abgesehen von Prostitution prekäre Liebesverhältnisse, worin die Helden und Heldinnen aus dem Glückstopf der Emotionen abgedrängt sind und sich mit Gefühlsbrosamen begnügen müssen?

Friedrich Hahn zeigt eine Frau, die gelernt hat, sich zurückzunehmen und im Hintergrund zu bleiben. Als Schaufensterfrau steht sie zwar im Rampenlicht, wenn sie gerade am Abend die Dekoration wechselt, am nächsten Tag freilich liegen wieder die Produkte im dekorierten Fokus, von der Schaufensterfrau ist weit und breit nichts zu sehen.

Alissa Ganijewa, Eine Liebe im Kaukasus

h.schoenauer - 31.08.2017

Wenn in der großen Politik nichts zu holen ist, stürzen sich die Menschen auf das kleine Glück und politisieren es. Die Hochzeit ist dabei das Parlament des kleinen Mannes und der kleinen Frau, darin können sich beide für einen Tag verwirklichen, ehe das Unglück wieder Fahrt aufnimmt.

In Alissa Ganijewas Roman „Eine Liebe im Kaukasus“ dreht sich vordergründig alles ums Heiraten. Patja hat in Moskau ein Praktikum absolviert und soll nach Dagestan zurück, um zu heiraten, ehe es zu spät ist. Sie ist mit fünfundzwanzig schon sehr überständig. Die Fühler zu Hause sind schon ausgefahren, man hat bereits den Hochzeitsaal reserviert, man weiß nur noch nicht, wer wen heiraten wird. Ähnlich ergeht es Murat, der in Moskau in einer Anwaltskanzlei arbeitet und ebenfalls nach Hause soll, weil dort komplizierte Verträge Probleme machen.