Lautleseverfahren Teil 1: Grundlagen und Methoden

LV

In meiner Praxistätigkeit an diversen Schulen musste ich in jeder einzelnen Klasse feststellen, dass das Lautlesen eine unüberbrückbare Herausforderung für den Großteil der Kinder darstellt. Selbst wenn die Schülerinnen und Schüler einen kurzen Text vorbereiten können, fällt das Vorlesen sichtlich schwer.

Ich hatte den Eindruck, dass sich die Schülerinnen und Schüler dadurch in eine Prüfungssituation gedrängt fühlen. Sie beginnen zu schwitzen und zu stottern, werden rot und lesen über Fehler einfach hinweg. Die einfachsten Wörter können für sie zu einem Problem werden.

Ich bin und war immer der Meinung, dass man mit viel Übung und Training fast alles im Leben lernen kann. Das ist der Grund, warum ich mich auf die Suche nach einer Methode gemacht habe, mit der es möglich ist, mit Schülerinnen und Schülern auf eine motivierende und angenehme Art das laute Lesen zu trainieren.

Welche alten Lautleseverfahren sind bekannt?

Die Lautleseverfahren, die von früher bekannt sind, nämlich das Chorlesen, das Reihumlesen und Fehrleresen, haben mit den heutigen Lautleseverfahren nur wenig gemein. Durch das satzweise Erschließen des Textes ist beim Reihumlesen und Fehlerlesen die Lesezeit zu gering um einen Übungseffekt zu erzielen. Außerdem wird nicht wiederholt gelesen, was keine Verbesserungsmöglichkeit zulässt. Die Konzentration auf nur einen Satz verhindert außerdem einen Textzusammenhang.

Das Chorlesen war früher, Ende des 19. Jhdt. und zu Beginn des 20. Jhdt.,  eine sehr beliebte Lesemethode und wurde vor allem als Methode zum literarischen Lesen verstanden und war elementare Grundlage des Leseunterrichts.

Was wird durch die Lautleseverfahren gefördert?

Im Allgemeinen wird vor allem die Leseflüssigkeit gefördert. Die Leseflüssigkeit verbindet das Dekodieren mit dem Leseverständnis. Ohne die Fähigkeit, Wörter dekodieren zu können kann kein Satzzusammenhang entstehen oder einzelne Wörter werden nicht verstanden. Das führt zu mangelndem Textverständnis. Außerdem wird noch die Motivation und Emotion durch die Leseflüssigkeit verstärkt.

Leseflüssigkeit entsteht, wenn vier Bereiche, die aufeinander aufbauen, ausführlich trainiert werden.

  • Bereich: Genauigkeit des Dekodierens

Gute Leser dekodieren exakt, genau und schnell und können Fehler selbstständig ausbessern. Schwache Leser sinnentstellen einen Satz. Schon bei einer Dekodiergenauigkeit von 90% stellt sich Frust ein, da der Text nicht ohne Hilfe verstanden werden kann.

  • Bereich: Automatisierung des Dekodierens

Der Lernvorgang vollzieht sich mühelos und unbewusst. Die Schülerin, der Schüler liest nur selten bzw. nie stockend und unsicher. Das nennt man den direkten lexikalischen Zugang. Hier wird die Bedeutung der Wörter im Lexikon durch visuelle Wahrnehmung abgerufen.

Schwache Leser müssen zuerst den Klang hören und schaffen sich dann erst Zugang zum Lexikon. Das nennt man den indirekten phonologischen Zugang.

  • Bereich: Lesegeschwindigkeit

Die Lesegeschwindigkeit fällt am meisten auf. Genauigkeit und Automatisierung des Dekodierens sind Voraussetzung für die Lesegeschwindigkeit, die natürlich vom Schwierigkeitsgrad des Textes abhängt. Die Lesegeschwindigkeit sollte immer an die Lektüre angepasst werden. Eine Mindestgeschwindigkeit ist allerdings wichtig, damit Infos aufgenommen werden können, denn Informationen werden im Kurzzeitgedächtnis gespeichert und dort weiterverknüpft. Bei einer verzögerten Geschwindigkeit wird der Selbstüberwachungsprozess erschwert.

  • Bereich: Segmentierung und Betonung

Hier geht es um die Fähigkeit sinngestaltend und betont vorzulesen.  (stimmliche Modulationen: Betonungsdehnungen, Pausen, Phrasenlesen, …) Ohne diesen Bereich werden keine syntaktisch (korrekter Satzbau) und semantisch (inhaltliche Beziehungen) zusammengehörenden Sachverhalte sinnstiftend verstanden. Schwache Leser ziehen oft falsche Satzteile zusammen.

Förderung der Leseflüssigkeit durch Lautleseverfahren

Wenn die Leseflüssigkeit gut ist, dann kann sich der Leser/ die Leserin vollständig auf das Verständnis des Textes konzentrieren. Kinder verweigern die Lektüre oft, weil die Lesekompetenz nicht ausreichend ausgeprägt ist. Dadurch entsteht wieder Frust. Lautleseverfahren sind direkte Übungsmethoden, wobei Texte laut bzw. halblaut gelesen werden und wodurch die „technische“ Seite des Lesens sichtbar wird.

Was lernen Schülerinnen und Schüler?

  • Richtige Aussprache
  • Richtige Betonung
  • Richtige Entschlüsselung
  • Zusammengehörigkeit der Wörter
  • Wie Satzzusammenhänge entstehen

Grundformen

Es gibt zwei Grundformen, die dann wieder bei den Einzelverfahren zum Einsatz kommen.

a. Wiederholtes Lautlesen:

Das wiederholte Lautlesen ist wichtig für die Dekodiergenauigkeit. Beobachtungen aus dem Sport und Musikbereich zeigten, dass nur durch die Wiederholung von Übungen und durch das wiederholte Trainieren Verbesserungen eintreten können.

Ablauf:

Der Text wird von den Schülerinnen und Schülern selbst ausgewählt (à Motivation, Tutor hat vorher schon Schwierigkeitsgrad überprüft)

Nicht mehr als 300 Wörter

Schülerin/Schüler liest dem Tutor vor, dieser notiert die Fehler

Schülerin/Schüler übt alleine

Zum Schluss liest Schülerin/Schüler noch einmal dem Tutor vor. Die Fehler werden wieder notiert. Der Zyklus wird so lange wiederholt, bis die Lesegeschwindigkeit 100 WpM erreicht hat und die Fehleranzahl bei max. zwei liegt.

Die Meinungen gehen auseinander. Rosebrock lässt die erste Überprüfung weg und beginnt gleich mit der individuellen Übungseinheit. Wichtig ist allerdings immer, dass Wörter wiederholt laut gelesen werden, damit sich Buchstabenkombinationen ins orthografische und semantische Lexikon einschleifen. Ein Leseanfänger muss ein Wort mindestens 4-5 Mal richtig dekodieren, um es dann schnell erkennen zu können.

b. Chorisches Lautlesen:

Chorisches Lautlesen ist wichtig für die Steigerung der Leseflüssigkeit. Die Lesegeschwindigkeit und das phrasierte Lesen werden gezielt eingeübt. Der Tutor achtet allerdings trotzdem auf sinnentstellende Fehler, deshalb wird auch die Dekodiergenauigkeit trainiert. Es gibt verschiedene Muster…

  • Chorlesen
  • Echolesen
  • Lückenlesen

… und drei Wirkungsbereiche.

  • Verhaltensmuster des Lesemodells übernehmen und gewonnene Informationen mental kodieren
  • Wahrnehmung der Folgen (negativ: Hemmungen, positiv: Enthemmung)
  • Auslöseprozesse unterscheiden: Wie wurde gehandelt oder reagiert?

Außerdem gibt es verschiedene Abläufe. Der Lesemeister ist das Lesemodell. Dieser kann gemeinsam mit dem Schüler/der Schülerin lesen, zeitverzögert lesen oder während dem Lesen einfach stoppen, während der Schüler/die Schülerin weiterliest. Der Lesemeister achtet auf die Sinnentstellung und korrigiert sehr behutsam und sachbezogen. Der Schüler/die Schülerin übernimmt das richtige Tempo und die richtige Betonung. Mit der Zeit wird die Verantwortung dem Schüler/der Schülerin übertragen. (Korrekturen)

Während und nach der Lektüre soll ein inhaltlicher und sozialer Bezug hergestellt und über die Lektüre kommuniziert werden.

Einzelverfahren

  • Mitleseverfahren

Beim Mitleseverfahren wird mittels medialer Hilfsmittel trainiert. Wenn so viele Kinder in der Klasse sind, kann die Lehrperson nicht für jedes Kind ein Lesemodell sein. Mit Hörbüchern etc. können diese Medien die Rolle des Lesemodells übernehmen. Der Gedanke des begleitenden Lesens steht im Zentrum.

Die Schülerinnen und Schüler hören ein Hörbuch über Kopfhörer und lesen anschließend (halb-)laut parallel zum Sprecher flüssig und laut. Jeder Schüler kommt dazu, laut zu lesen, allerdings rutscht der Aspekt des wiederholten Lautlesens in den Hintergrund. Bei dieser Methode gibt es ein Problem: Die Schule muss mit den notwendigen Abspielgeräten oder guten Computerräumen, Kopfhörern und Hörbüchern ausgestattet sein.

Verbesserungen treten vor allem bei älteren Kindern und Erwachsenen ein.

  • Partnerlesen

Beim Partnerlesen wird ein stärkerer mit einem schwächeren Leser zusammengeschlossen. Gemeinsam kann dann nach den zwei Grundformen, also mit wiederholtem Lautlesen oder chorischem Lesen trainiert werden.

Wichtig ist, dass sich die Schülerinnen und Schüler richtig verhalten. Dafür sind Verhaltensvereinbarungen von großem Vorteil. Der Tutor (besserer Leser) darf nur behutsam ohne Spott und Gereiztheit verbessern, während der schwache Leser dem Tutor Vertrauen schenken muss. Nach jeder Einheit soll sich das Paar über das Gelesene austauschen. (Leseerfahrung und Inhalt)

Verbesserungen treten sowohl bei schwachen als auch bei stärkeren Lesern ein.

  • Chorlesen

Ist im Regelunterricht problemlos praktizierbar, kann allerdings für die Lehrperson und für die Schülerinnen und Schüler gewöhnungsbedürftig sein.

Didaktische und methodische Besonderheiten:

Die Lehrperson soll Text mit gutem Ausdruck und passender Geschwindigkeit vortragen

Methode in langsamen Tempo einüben (Hilfreich: Schüler schon im Vorfeld mit Texten oder Sätzen vertraut machen – z.B. Gedicht in Absätzen auf Schüler aufteilen und vorbereiten lassen)

Einzelne Teile eines Textes im Chor lesen (z.B. Refrain immer im Chor lesen, Strophen in Gruppen oder von einzelnen Schülern)

Aufbauend (1. Satz 1 Schüler, 2. Satz 2. Schüler, …)

Das Chorlesen ist sehr motivationsfördernd, da ein gelungener Vortrag mit gemeinsamer Stimme besonders eindrucksvoll ist und ein Gefühl der gelungenen Teamarbeit hinterlässt. Außerdem muss keiner alleine lesen und somit wird auch keiner bloßgestellt.

Nächste Woche lesen Sie Lautleseverfahren Teil 2: Praxisbeispiele aus dem Unterricht

Text: Julia Kostner

Artikelbild: Partnerlesen (Reinhold Embacher)

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