Andrzej Stasiuk, Der Stich im Herzen

Manche Gegenden sind so zerfleddert und zerlegt, dass sie nur mit einer Naht quer durch das Herz zu einem Bild zusammengeflickt werden können.

Andrzej Stasiuk schreibt vornehmlich über Grenzen, entkoppelte Gebiete, aus der Gravitation gefallene Gesellschaften. Der aktuellen Sammlung von knapp fünfzig Fernweh-Geschichten sind sechs Richtschnüre vorgespannt, wie man sich diesen Emotionen nähern könnte.

Im zentral-sibirischen Gelände fliegt die Maschine plötzlich einen Ausweichflughafen an, der sich als unmöblierte Halle erweist, in deren Nähe die größten Uranvorkommnisse Russlands liegen. / Auf einer alten Straße Richtung Grodek wandern wie in einem Trakl-Gedicht die Toten. / Wenn man sich dem entleerten Ort von der richtigen Seite her nähert, hat man länger Zeit, in seine Leere zu starren.

Auf einem Flug nach Irkutsk wird der Baikalsee gerne mit einem ähnlich großen Stausee verwechselt. / Wenn man aus der Gobi zurückkommt, lebt man noch einige Zeit in der Hocke weiter, auch wenn man schon in Ulan Bator ist. / Im rumänischen Suceava genügt der Erinnerungsstich einer feinen Nadel, um das ganze Konvolut an Kindheitserinnerungen anzustechen.

Mit diesen Nadelstichen in das Erinnerungskissen werden nun Reisen aufgearbeitet, das Bett zum Lesen überstrahlt in seiner Härte den gelesenen Stoff, es fällt ein ungünstiger Name und schon denken alle an schlechtes Wetter. Dabei tritt gerade in entlegenen Gegenden die Witterung oft schroff dem Gemüt in den Weg.

Im März etwa werden die kaputten Wagen ins Freie geschoben, um sie in Frischluft zu reparieren. Die Frauen freilich haben schon das dünne Zeug an und verkühlen sich und sterben an Lungenentzündung, noch ehe sie in diesem Frühjahr richtig geliebt werden konnten.

Manchmal findet eine Reise nur im Kopf statt, etwa wenn es nach Kalabrien gehen soll, was dem Reisenden noch nie gelungen ist. Immer ist er auf dem Weg dahin hängen geblieben.

Polnische Literaturkritiker bemängeln immer wieder, dass es keinen typisch polnischen Gegenwartsroman gibt, dabei muss man bloß die so genannte „816“ fahren, dann hat man den Paraderoman. Diese Grenzstraße zur Ukraine erzählt zwischen Zosin und Terespol so gut wie alles vom Rand einer Gesellschaft.

Jeden Dienstag wirft der Nachbar sein Auto an und rumpelt in den nächstgrößeren Markt, auf dem an diesem Tag ebenfalls Nachbarn für nichts angerumpelt kommen, um ja den Dienstag nicht zu vergessen. Und immer wieder zieht die Melancholie der Übergänge auf. Am Pass hat es zu schneien begonnen, die Straße wird dicht gemacht, obwohl ohnehin niemand bei Sinnen diesen Kleinkarpaten-Übergang benützt. Etwas Ramsch aus Beton steht im Gelände herum und tröstet die Bevölkerung, dass sie wilde Menschen sind, wenn man bedenkt, was sie alles zugelassen oder gar verdrängt haben.

Jede Geschichte versetzt einem einen Stich ins Herz, um jäh aufzubrechen in diese Gegenden und Grenzen für ein paar Augenblicke der Befreiung aus sich selbst.

Andrzej Stasiuk, Der Stich im Herzen. Geschichten vom Fernweh. A. d. Poln. von Renate Schmidgall. [Orig.: Nie ma ekspresow przy zoltych drogach, Wolowiec 2013.]
Berlin: Suhrkamp 2015 (= st 4577), 207 Seiten, 10,30 €, ISBN 978-3-518-46577-6

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Andrzej Stasiuk, Der Stich im Herzen
Wikipedia: Andrzej Stasiuk

 

Helmuth Schönauer, 05-04-2015

Bibliographie

AutorIn

Andrzej Stasiuk

Buchtitel

Der Stich im Herzen. Geschichten vom Fernweh

Originaltitel

Nie ma ekspresow przy zoltych drogach

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

Suhrkamp Verlag

Reihe

st 4577

Übersetzung

Renate Schmidgall

Seitenzahl

207

Preis in EUR

10,30

ISBN

978-3-518-46577-6

Kurzbiographie AutorIn

Andrzej Stasiuk, geb. 1960 in Warschau, lebt in den Beskiden.