Benjamin Stein, Ein anderes Blau

Die Absichten der Literatur sind mannigfaltig, eine Besonderheit ist freilich, dass sie sich stets selbst analysiert und überprüft, ob die angestrebten Absichten auch erreicht werden. Die Literatur funktioniert dabei wie eine sich selbst reinigende Pfanne.

Benjamin Stein liegt viel daran, nicht nur eine ungewöhnliche Prosa zu erzählen sondern auch deren Entstehungs- und Wirkungsgeschichte. Die Lektüre von „Ein anderes Blau“ sollte man daher wie alle Bücher, die eines haben, mit dem Nachwort beginnen. Der Plan nach einem Erzählen der individuellen Wahrheit geht auf die Erfahrung in der DDR zurück, wo die Wahrnehmung und Wahrheit öffentlich genormt stattfindet.

Der Autor entwickelt in dieser Zeit eine Methode, die einzelnen Parts wie Stimmen in der Musik anzulegen, die vom Leser selbst zusammengesetzt werden müssen. Eine Fassung dieses Erzählens ist in einer Kleinauflage erschienen ohne Wahrnehmung durch die Literaturgeschichte. Soll heißen, wenn etwas zu individuell erzählt wird, rutscht es durch das Flusen-Sieb der Literaturwahrnehmung.

Ein anderes Blau ist in der aktuellen Fassung eine „polyphone Ich-Erzählung“. Mehrere Figuren erzählen das, was gerade in ihrem Fokus liegt, daraus ergibt sich eine Geschichte, die fast etwas Öffentliches wie eine journalistische Nachricht hat. Als Kernzone der Handlung bildet sich jene Nachricht heraus, die einst von München aus um die Welt gegangen ist. Beim Bau einer U-Bahn-Röhre versinkt ein Bus, es gibt mehrere Tote, aber die letzten beiden können erst nach acht Monaten geborgen werden, weil sonst der halbe Stadtteil zusammenstürzen würde.

Während die einen Stimmen nun dabei sind, die Wohnung in Besitz zu nehmen, die Möbelpacker am Nachbargrundstück beobachten oder einfach Angst haben, in dieser Gegend erschossen zu werden, berichten jene Frau und jener Mann, die dann als Tote im Bus sitzen werden, was sie an diesem Tag so gemacht haben, wie sie zufällig in den Bus gelangt sind und wie sich im Unglück ein Un-Verhältnis entwickelt, das nichts mit landläufigen Beziehungen zu tun hat.

Manchmal empfindet jemand etwas als Projekt und vergisst dabei, was er dahinter als Feld oder pure Weite empfindet. (46) Jemand stellt sich die Frage, ob die beiden im Bus als tot gelten können, wenn sie zumindest durch ihre Nicht-Bergung noch in einem poetischen Akt verhaftet sind. Die abgetauchten Figuren nehmen ihre Situation gerne als Fiktion auf, um das sonst Unsagbare in Worte zu kleiden. „Wir lösen uns auf“, heißt es schließlich lapidar und alles wird blau.

Benjamin Stein fordert den Leser mit seiner Lektüre-Übung heraus, denn es gibt viel zu konnotieren, zusammenzusetzen und als Botschaft unterirdisch im Text zu verfolgen. Aber die Mühe lohnt sich, denn was immer man aus dem Text heraus liest, es ist nach der Theorie des Autors poetisch einwandfrei und richtig.

Benjamin Stein, Ein anderes Blau. Prosa für 7 Stimmen.
Berlin: Verbrecher Verlag 2015, 107 Seiten, EUR 19,00, ISBN 978-3-95732-082-7

 

Weiterführende Links:
Verbrecher Verlag: Benjamin Stein, Ein anderes Blau
Wikipedia: Benjamin Stein

 

Helmuth Schönauer, 30-04-2015

Bibliographie

AutorIn

Benjamin Stein

Buchtitel

Ein anderes Blau. Prosa für 7 Stimmen

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

Verbrecher Verlag

Seitenzahl

107

Preis in EUR

19,00

ISBN

978-3-95732-082-7

Kurzbiographie AutorIn

Benjamin Stein, geb. 1970 in Ostberlin, lebt in München.