Björn Bicker, Was wir erben

An manchen Tagen gibt es in der Literatur nur das Familienthema zu bearbeiten, die einen unternehmen alles, um die Familie los zu werden, die anderen alles, um sie zu entdecken.

In Björn Bickers Roman „Was wir erben“ wird eine Ich-Erzählerin Elisabeth aus heiterem Himmel heraus dazu gezwungen, sich mit der Familie auseinanderzusetzen. Ihr ist nämlich ein Bild zugespielt worden, worauf zu erkennen ist, dass ihr Vater parallel zu seiner Frau eine Beziehung gehabt hat, aus der ebenfalls ein Kind übrig geblieben ist. Die Erzählerin schreibt dem etwa gleichaltrigen Halbbruder einen Brief und rollt ihre Hälfte des gemeinsamen Stammbaums auf.

Das auslösende Foto zeigt eine Deutsch-Deutsche Beziehung der innigen Art. Anlässlich der Olympischen Sommerspiele in München werden Ost- und West-Lover agentenhaft auf einander angesetzt. Dem Vater der Erzählerin wird offensichtlich eine Ost-Frau zugeteilt, vielleicht ist es auch heftige Liebe, jedenfalls verschwindet diese Frau wieder mit ihrem frisch gezeugten Kind und erst nach Jahrzehnten taucht die Nachricht auf, dass es einen Halbbruder gibt.

Der Vater ist ursprünglich aus dem Osten ausgewandert und hat im Westen bei der Bundeswehr eine stille Säuferkarriere gemacht. Als er einsam stirbt, ist seine Leber verwahrlost wie seine Wohnung

Diesen Teil der rekonstruierten Familienchronik könnte man auch als Kurzdarstellung der Geschichte der beiden Deutschland lesen. Heruntergebrochen auf das Individuum ergibt sich daraus eine ungelenke Biographie, die ähnlich schmerzhaft unlogisch abläuft wie die große Geschichte.

Die Ich-Erzählerin bastelt nämlich schon längere Zeit mit ihrem Mann, einem plastisch-restaurativen Arzt, an einem eigenen Kind herum. Aber erst durch einen theatralischen Seitensprung gelingt es, „einen Zellhaufen in der Gebärmutter zum Leben zu erwecken.“ (253)

Jetzt, wo die Schwangerschaft fix ist, verkrümelt sich Elisabeth in einem Seitenappartement der Mariahilfer Straße in Wien. Während sie alles aufschreibt, verteilt sie die Rollen und Identitäten neu, damit auch alles im Sinne einer Familienaufstellung seinen Platz hat. Neben den Fotos und Erinnerungen sind vor allem die Theaterstücke hilfreich, in denen die Erzählerin mitgespielt hat. Denn am manchen Tagen ist das Theater nur für die Schauspieler da, die sich darin ihre Rollen erkämpfen müssen.

Auch die große politische Bühne zeigt sich manchmal in kleinen, aufschlussreichen Partikeln. So erklärt der Arzt einmal, dass beim „German Botox“ (142) die Verschönerung unauffällig und natürlich wirken soll, währen beim American Botox es für alle klar sein soll, dass hier ein Eingriff stattgefunden hat. Das erklärt vielleicht überhaupt die unterschiedliche Art der Politik der beiden Länder.

„Was wir erben“ ist eine aufregende Familiengeschichte, die aus zusammengewürfelten Genen, politischen Gemengen und historischen Brüchen etwas Überschaubares zu komponieren versteht für eine aushaltbare Identität.

Björn Bicker, Was wir erben. Roman.
München: Kunstmann 2013. 284 Seiten. EUR 20,50. ISBN 978-3-88897-818-0.

 

Weiterführende Links:
Verlag Antje Kunstmann: Björn Bicker, Was wir erben
Wikipedia: Björn Bicker

 

Helmuth Schönauer, 08-07-2013

Bibliographie

AutorIn

Björn Bicker

Buchtitel

Was wir erben

Erscheinungsort

München

Erscheinungsjahr

2013

Verlag

Edition Antje Kunstmann

Seitenzahl

284

Preis in EUR

20,50

ISBN

978-3-88897-818-0

Kurzbiographie AutorIn

Björn Bicker, geb. 1972, lebt in München.