Christopher Clark, Die Schlafwandler

„So gesehen waren die Protagonisten von 1914 Schlafwandler – wachsam, aber blind, von Albträumen geplagt, aber unfähig, die Realität der Gräuel zu erkennen, die sie in Kürze in die Welt setzen sollten.“ (718)

Christopher Clarks großes Geschichtswerk schildert die Vorgeschichte zum 1. Weltkrieg und stellt detailliert jene Ereignisse, machtpolitischen Konstellationen und politischen Akteure anhand zahlreicher Quellen kenntnisreich vor, in deren Umfeld Europa wie ein Schlafwandler in den Krieg zog.

Clark zeichnet den Weg Europas in den 1. Weltkrieg in drei großen Abschnitten nach. Der erste Teil „Wege nach Sarajewo“ wirft seinen Blick auf den geographischen Ausgangspunkt des Krieges: die Vorgeschichte und Verhältnisse im Königreich Serbien sowie im Habsburger Reich.

Der zweite und umfangreichste Teil „Ein geteilter Kontinent“ zeigt die zunehmenden Gegensätze und Spannungen zwischen den verschiedenen Großmächten in Europa auf, die durch die einzelnen Bündnissysteme verstärkt wurden. Der dritte Teil „Krise“ geht minutiös auf die Handlungen und Ereignisse ein, die schließlich vom Mord in Sarajevo zum Ausbruch des 1. Weltkrieges geführt haben.

Der 1. Teil setzt sich im Kapitel „Serbische Schreckensgespenster“ mit den durch und durch nationalistisch geprägten politischen Verhältnissen im Königreich Serbien auseinander, das nach der Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich ein Großreich der Serben anstrebte, das alle slawischen Völker des Balkans umfassen sollte. Damit war ein Konflikt mit der Habsburger Monarchie als Teil der serbischen Politik bereits vorprogrammiert, was eine enge Anlehnung Serbiens an das russische Kaiserreich als Schutzmacht zur Folge hat.

Kapitel 2 „Das Reich ohne Eigenschaften“ zeigt die Schwierigkeiten auf, mit denen die Habsburger Monarchie seit ihren Niederlagen gegen Italien und Deutschland sowohl innenpolitisch als auch im Konzert der europäischen Großmächte zu kämpfen hatte. Aber ganz im Gegensatz zum weitverbreiteten Bild eines bereits untergehenden Reiches, verweist Clark auf die erkennbaren Zeichen eines wirtschaftlichen und politischen Aufschwungs Österreich-Ungarns, der auch in der Zukunft einiges an Potential geboten hätte.

Aber die meisten Bewohner des Reiches assoziierten die Habsburger Monarchie mit den Vorzügen einer ordnungsgemäßen Regierung: staatliche Bildung, Sozialhilfe, Gesundheitswesen, Rechtsstaatlichkeit und der Erhalt einer entwickelten Infrastruktur. (108)

Der 2. Teil des Geschichtswerkes „Ein geteilter Kontinent“ zeichnet zunächst die Polarisierung Europas in der Zeit zwischen 1887 – 1907 nach, das sich von anfänglich unterschiedlichen, interessenbedingten und wechselnden Bündnissen zu einem erstarrenden Bündnissystem zweier Blöcke entwickelte. Dabei spielte vor allem die immer enger werdende Verbindung der Achse Frankreich – Russland auf der einen Seite sowie Deutschland – Österreich-Ungarn auf der anderen Seite eine entscheidende Rolle, wobei für Frankreich vor allem die Demütigung durch den Deutsch-Französischen Krieg und den rasanten wirtschaftlichen und politischen Aufstieg des Deutschen Reiches treibende Kraft war.

Im Kapitel „Die vielen Stimmen der europäischen Außenpolitik“ verweist auf den interessanten Umstand, welche Bedeutung den Sympathien, Meinungen und Standpunkten der zahlreichen Protagonisten, angefangen von den Monarchen bis hin zu den Ministern, Beamten und Botschaftern, auf die Außenpolitik der einzelnen Länder zukommt. Ein Umstand der sich zu Beginn der Krise des 1. Weltkrieges verhängnisvoll ausgewirkt hat.

Nach dem Kapitel „Verwicklung auf dem Balkan“ der die zunehmenden politischen Spannungen seit den Balkankriegen im Jahr 1912 nachzeichnet und dem Kapitel „Die letzten Chancen: Entspannung und Gefahr“, das zeigt, dass die Gegensätze zwischen den europäischen Großmächten nicht zwangsläufig auf einen Krieg zugesteuert sind, sondern immer noch Möglichkeiten friedlicher Interessensausgleiche geboten hätte, geht es im 2. Teil „Die Krise“, direkt um die unmittelbaren Ereignisse und Entscheidungen die letztlich zum 1. Weltkrieg geführt haben.

Die Kapitel „Mord in Sarajewo“, „Die Krise zieht immer größere Kreise“, „Die Franzosen in St. Petersburg“, „Das Ultimatum“, „Die Warnschüsse“ und „Die letzten Tage“ zeichnet detailliert nach, welche Entscheidungen, Blickwinkel, Überlegungen und Reaktionen in den einzelnen Ländern zum Krieg geführt haben und wie die verbleibenden Möglichkeiten ausgelassen worden sind, um diesen noch zu verhindern.

Christopher Clark gelingt es mit seinem großen Geschichtswerk vor allem einen neuen, überaus spannenden Blickwinkel auf eine Zeit zu werfen, die uns durch ihre Uniformen und ihr monarchisches Wesen bereits fremd wirken mag. Und dennoch erscheinen die Parallelen zur Gegenwart beim zweiten Hinsehen viel größer, als uns vielleicht lieb ist. So erinnern das geplante Selbstmordattentat in Sarajewo, der habsburgische Vielvölkerstaat und der deutsche Aufstieg zur Großmacht am Vorabend des Weltkrieges an die Verhältnisse im Nahen Osten, das übernationale Gebilde der EU sowie an den wirtschaftlichen und militärischen Aufstieg Chinas in der Gegenwart.

Clark, geht als australischer Historiker, relativ unverkrampft mit der Frage nach der Schuld für den Ausbruch des 1. Weltkrieges um, ohne die Verantwortung der jeweiligen Politiker in den einzelnen Ländern zu negieren, die wie Schlafwandler, wissend um die drohende Gefahr, Europa in den Abgrund steuerten.

„Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ überzeugt sowohl durch sein historisch fundiertes Wissen als auch durch seine erzählerisch überragende Leistung, mit der ein neuer Blickwinkel auf die Vorgeschichte des 1. Weltkrieges vermittelt wird. Ein überaus empfehlenswertes Geschichtswerk für alle, die sich für politische und gesellschaftliche Entwicklungen im Allgemeinen, sowie ein „Muss“ für alle die sich für die Geschichte des 1. Weltkriegs interessieren.

Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Mit Abb., übers. v. Norbert Juraschitz [Orig. Titel: The Sleepwalkers: How Europe Went to War in 1914]
München: Deutsche Verlagsanstalt 2013, 896 Seiten, 41,20 €, ISBN 978-3-421-04359-7

 

Weiterführende Links:
Deutsche Verlagsanstalt: Christopher Clark, Die Schlafwandler
Wikipedia: Christopher Clark
Wikipedia: Die Schlafwandler (Sachbuch)

 

Andreas Markt-Huter, 20-09-2014

Bibliographie

AutorIn

Christopher Clark

Buchtitel

Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog

Originaltitel

The Sleepwalkers: How Europe Went to War in 1914

Erscheinungsort

München

Erscheinungsjahr

2013

Verlag

DVA

Übersetzung

Norbert Juraschitz

Seitenzahl

896

Preis in EUR

41,20

ISBN

978-3-421-04359-7

Kurzbiographie AutorIn

Christopher Clark lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine's College in Cambridge. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Preußens. Er ist Autor einer Biographie Wilhelms II., des letzten deutschen Kaisers. Für sein Buch „Preußen“ erhielt er 2007 den renommierten Wolfson Prize sowie 2010 als erster nicht-deutschsprachiger Historiker den Preis des Historischen Kollegs.