Friedrich Hahn, Die Heimsuchung

h.schoenauer - 07.02.2025

friedrich hahn, die heimsuchungWer im literarischen Kosmos des Friedrich Hahn Heldin oder Held sein will, muss sich die Qualität eines Sandkorns im Stundenglas zulegen. Der mehrdeutige Begriff „Heimsuchung“ stellt sich im höheren Alter oft in den Weg einer glatten Biographie. Einerseits ist darunter eine soziale Einrichtung zu verstehen, worin Pflege und Obsorge als kleines Paradies angeboten werden, andererseits lässt sich eine amorphe Lebenssituation durchaus als pure Bedrohung deuten. „Ist die Suche nach dem Heim abgeschlossen, beginnt die Heimsuchung.“

Im Mittelpunkt des Romans steht der einundsiebzigjährige Siegi, der im Heim an der Uferstraße untergekommen ist. In seiner aktiven Zeit hat er als Tierpfleger in Schönbrunn gearbeitet, aber das frühere Leben spielt ab nun keine Rolle mehr, hier wird jeder an seinem Handicap gemessen, das er zu bewältigen hat. Siegi hat einen „welken“ Fuß und geht am Stock, zur Einführung in die neue Lebenssituation leiht er sich einen Rollator aus und umrundet die neue Wohnstatt.

Nach dieser Einübungsrunde in die Pflegewelt wird er mit den künftigen Kommilitonen vertraut gemacht. Alle haben ihre Vergangenheit abgelegt und widmen sich ausschließlich der Gegenwart. Therapie, Spiel, Politisieren, Witze erzählen – die Tage bestehen aus Struktur.

Abwechslung bieten Verdauungsstörungen, wenn alle am fetten Schweinsbraten leiden, und Kinderbesuche, wenn zwischen den Fragen der Alten und den Antworten der Kinder kein Unterschied besteht. Ab und zu schlagen persönliche Empfehlungen auf, wonach man beispielsweise immer mit der Fernbedienung schlafen gehen soll, denn das Programm am Stück wäre unerträglich.

Weitere Erkenntnisse und Faustregeln:

  - Wer keine Erwartungen hat, hat auch keine Sorgen. (76)
  - Hier hat die Zeit kein Alter. (111)
  - Irgendwas ist immer. (187)

Der Roman spielt nur oberflächlich mit diesen reifen Alltagssätzen des Alterns, in seiner Struktur ist er wie ein Essay aufgebaut. Eintragungen wie in einem Tagebuch können als Überschriften gelesen werden oder als Lesezeichen für die unterbrochene Lektüre.

Diese Kurzkommentare im Sinne einer Gliederung brechen die Erzählform auf und mischen die beteiligten Stimmen neu. Was wie eine Ich-Erzählung des Siegi ausschaut, entpuppt sich als Teil einer Studie über das Pflegeheim. Als erzählerische Gegenspielerin zum agierenden Siegi fungiert Desiree, eine 27-jährige Studentin, die als eingebettete Journalistin an einem Buch arbeitet und somit gratis im Heim unter den Alten wohnen darf.

Was sie verfasst, ist freilich genauso fragil wie es die Erzählungen der Heimbewohner sind. Das Beschriebene scheint jedenfalls authentisch zu sein, denn als Siegi einmal ein paar Seiten des Geschehens lesen darf, schläft er dabei ein.
Neben Innensicht und journalistischem Kommentar tut sich schließlich noch eine dritte Ebene auf: die Welt der Bibliothek und ihrer darin aufgestellten Literatur.

Wer ist der ideale Heimbewohner? - Heimito von Doderer, denn er trägt das Heim schon im Namen.

Am Tag der offenen Tür lernt Siegi eine gewisse Ottilie kennen, und prompt entsteht eine zuerst zaghafte, dann mit schwärmerischen Sätzen ausgestattet Liebe. Die amourösen Schübe sind so stark, dass der Befallene nicht mehr unterscheiden kann, was er sich erträumt, was er sich wünscht, und was er gerade in einem Buch gelesen hat. Die Realität holt das verträumte und heftig ver-mailte Paar wieder ein, als Ottilie zumindest zeitweise zu ihrer Tochter nach Kanada ziehen wird.

An dieser Stelle würde ein üblicher Roman über Heimsuchung enden. Bei Friedrich Hahn freilich geht es jetzt erst los. „Angebliches. Abseitiges. Und alles andere. Varianten zu einem Ende der Heimsuchung.“ (192) Unter diesen Schlüsselwörtern wird überlegt, wie wirklich die Literatur sein kann. Lässt sich die Heimsuchung als Pflegefall einfach bewältigen, indem man alles zu Literatur erklärt? Und wenn draußen vor dem Heim die Welt ohnehin in einem sozialen Lockdown versinkt, braucht es dann noch das Haptische, wenn man den Lebnssinn ohnehin virtuell aufsuchen muss?

Jeder Mensch ist eine Geschichte, heißt es folgerichtig, und ein Roman ist das Bündel an Geschichten, das durch die Seiten getragen wird. Der lodernden Emotionen zwischen Siegi und Ottilie werden wie in einem Sitzkreis von verschiedenen Personen flammfest gemacht. Ein Bekannter aus Kanada reflektiert, wie Ottilie dort plötzlich von ihrer Liebschaft zu Haus schwärmt. Der Freund von Desiree berichtet, wie sich die Autorin durch das Buch plötzlich verändert hat. Ein Schriftsteller, der hauptsächlich als Juror arbeitet, stellt erste Mutmaßungen über die Glaubwürdigkeit der „Heimsuchung“ an.

Der Schluss ist eindeutig: „Schließlich: Man hat ja auch Körper.“ (284) Ob Liebe oder Schmerz, es ist der Körper, der die Heimsuchung aushalten muss.

Friedrich Hahn setzt mit diesem sozialen Planquadrat Heimsuchung seinen unerschöpflichen Zyklus an „einfachen Existenzen“ fort. Die Helden werkeln dabei auf kleiner Lebensfläche, fast alles geschieht indoor und der Fernseher wird zum Ausguck in die Welt. Die Figuren sind tatsächlich diese vom Leben abgeschliffenen Körner, die in einer Welt-Sanduhr stecken.

In den siebziger Jahren hat der erzählende Realismus in Österreich Furore gemacht mit Büchern wie Herrenjahre, Die Klosterschule oder Schöne Tage. (Wolfgruber, Frischmuth, Innerhofer). Friedrich Hahn scheint diesem Realismus mit seinem Personal aus der gesellschaftlichen Peripherie den Tupfen an Altersreife draufzusetzen.

Friedrich Hahn, Die Heimsuchung. Roman
Erfurt: kul-ja! publishing 2024, 288 Seiten, 17,50 €, ISBN 978-3-949260-33-9

 

Weiterführende Links:
kul-ja! publishing: Friedrich Hahn, Die Heimsuchung
Wikipedia: Friedrich Hahn

 

Helmuth Schönauer, 06-11-2024

Bibliographie
AutorIn:
Friedrich Hahn
Buchtitel:
Die Heimsuchung
Erscheinungsort:
Erfurt
Erscheinungsjahr:
2024
Verlag:
kul-ja! publishing
Seitenzahl:
288
Preis in EUR:
17,50
ISBN:
978-3-949260-33-9
Kurzbiographie AutorIn:
Friedrich Hahn, geb. 1952 in Merkengersch / NÖ, lebt in Wien.