Kirstin Breitenfellner, Bevor die Welt unterging

Eine Historiker-Weisheit sagt, dass man für sein eigenes historisches Bewusstsein mindestens 30 Jahre alt sein muss. Davor ist alles ahistorisch und einmalig, erst später kann man sein eigenes Leben in Zusammenhänge fassen und an die Zeitgeschichte andocken.

Kirstin Breitenfellner geht es in ihrem Roman um dieses Andocken an die Zeitgeschichte. „Bevor die Welt unterging“ beschreibt aus Schlagzeilen und auf den Alltag herunter gebrochenen Anekdoten eine Spät-Kindheit und Abitur-Adoleszenz zwischen 1979 und 1989.

Judith lebt in einer Kleinstadt und wird vor allem vom Umgang mit den Freundinnen geprägt, die ihre Lehrmeisterinnen sind, sei es durch Nachahmung oder Ablehnung. Da sich quasi mit jedem Schuljahr auch der Freundinnenbestand ändert, können die Jahre gut nach handelnden Personen, Marotten und Ideen abgelegt werden.

Dabei erzählt Judith als Ich-Erzählerin von jener Welt, die sich in Insider-Gesprächen abspielt. Was sickert bis in die kleine Oberstufe eines Provinzgymnasiums durch? Was ist es wert, dass die Kids das letzte Geld in die Hand nehmen, um sich als Konsumenten über die gekauften Fetische eine Identität leisten zu können?

Und sie kommen alle zum Vorschein, die Frisuren, Ohrenlöcher, Sport-BHs und Schuhe, die Ikonen der Literatur, Max Frisch, Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre, die befreienden Schularbeiten über Sophie Scholl und die Ökologie, das Baumsterben und die Organisation gegen den Nato Doppelbeschluss.

Den einzelnen Jahreskapiteln ist eine individuelle Darstellung als Tagebuch angeschlossen. „Ich möchte nicht mit fünfzig nur noch eine verblasste, schemenhafte Erinnerung an die Zeit haben.“ (78) Das Tagebuch soll für später genaue Auskunft geben und jenen Film erleichtern, den wir alle stets über die Vergangenheit drehen.

Zum entscheidenden Schnitt kommt es durch Tschernobyl, das ist jener Punkt „bevor die Welt unterging“. Nicht nur die Schutzmaßnahmen, Sprachfügungen und Informationsabläufe kriegen einen Zug ins Lächerliche, die ganze Welt steht plötzlich vor der Alternative, dass sie vielleicht nicht mehr will und das Ende der Schöpfung einläutet.

Diese radikale Veränderung von Zukunft zeigt sich am Ende des Romans als lapidare Liste der aufgetretenen Personen und ihrer Schicksale. Allen hat das Leben einen Streich gespielt und es ist etwas Anderes herausgekommen, als es in den Aufsätzen seinerzeit besungen worden ist.

Vielleicht hat Kirstin Breitenfellner so etwas wie einen Anti-Erziehungsroman geschrieben, seht her, was immer ihr unterrichtet und kauft, für später braucht ihr ganz was Anderes. Eine optimistische Ausrichtung, wenn man dem Leben einfach das Leben überlässt. Und auch der großen Geschichte ist es ja immer egal, wie das ausgeht, was die Historiker schreiben.

Kirstin Breitenfellner, Bevor die Welt unterging. Roman
Wien: Picus Verlag 2017, 229 Seiten, 22,00 €, ISBN 978-3-7117-2053-5

 

Weiterführende Links:
Picus Verlag: Kirstin Breitenfellner, Bevor die Welt unterging
Wikipedia: Kirstin Breitenfellner

 

Helmuth Schönauer, 17-09-2017

Bibliographie

AutorIn

Kirstin Breitenfellner

Buchtitel

Bevor die Welt unterging

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Picus Verlag

Seitenzahl

229

Preis in EUR

22,00

ISBN

978-3-7117-2053-5

Kurzbiographie AutorIn

Kirstin Breitenfellner, geb. 1966 in Wien, Kindheit in Kufstein, ab 1972 in Bensheim, lebt heute in Wien.