Martin Ahrends, Ich sehe eine Krähe

Jeder Landstrich braucht seinen eigenen Chronisten, um in die Besonderheiten des Geländes auch mit entsprechender Tiefenschärfe einzudringen.

Martin Ahrends bedient sich für seine Satiren aus der ostdeutschen Provinz der Krähe, um das darniederliegende Land in Randlage zumindest in der Fiktion wieder in die Höhe zu bringen.

Am Boden sind die Helden Socke und Locke mit klugem Blick unterwegs, um aus dem politischen und wirtschaftlichen Brachland den elementarsten Überlebens-Nutzen zu schlagen. Zu diesem Zweck lassen sie das Gelände von einer Krähe erkunden, die nämlich nicht über das Fliegen nachdenkt, und gerade wegen dieses Instinkts nicht abstürzt.

Socke und Locke sind beinahe durchgehend in einem illuminierten Zustand, weshalb sie immer wieder Muße finden, als geistige Krähe über das Brachland zu segeln. „Ebbe, Essig, Endzeit!“ (14) Die Lage ist ziemlich abgehangen, aber vielleicht lässt sich doch noch die eine oder andere Geschäftsidee verwirklichen, um wenigstens die Getränke zu finanzieren.

Locke, der ehemalige Diplomphilosoph, und Socke, ein ausgemusterter Major der Volksarmee, versuchen das Projekt „Wilder Osten“ auf die Beine zu stellen. Dabei wird ähnlich wie bei gängigen Freiluftfestivals der Osten als Wildes Land mit leer gelaufenen Bräuchen dargestellt.

Als Höhepunkt wird die Hobby-Sprengung eines Schlotes angeboten, was von den Hobby-Sprengmeistern gerne angenommen wird. Einmal in Fahrt gekommen bieten sich in der Folge ganze Straßenzüge an, die man noch niederlegen könnte. Die DDR als große Sprengfalle - eine groteske Geschäftsidee.

Beim Erkunden der devastierten Gebäude zeigt sich eine seltsame Vergessens- und Abräumkultur. Die Fortgezogenen haben offensichtlich genau überlegt, was sie als Mahnmal hinterlassen wollten.

Wer hier auszog, wollte nicht mit sich schleppen, was die Erinnerung mit sich schleppt. (22)

Im Wind-Sog dieser Spreng-Kultur entwickeln sich freilich auch verrückte Überlebensangebote, etwa das Samenspenden für sogenannte Wunschkindfrauen oder die Schaustellerei mit Schafen.

Vielleicht liegt es am Land, das nicht einmal mehr zur Nostalgie taugt, vielleicht an den Touristen, denen es zu wenig dekadent zugeht, vielleicht ist es aber auch nur eine generelle Trink-Ermüdung: Locke jedenfalls lässt sich spektakulär mit der letzten Sprengung ins Jenseits pusten. Der Abgang hat Stil wie von einer Krähe, das einzige Tier das lachen kann, das einzige Tier, das den Tod voraussagen kann.

Martin Ahrends Groteske vom Abgesang eines vergangenen Staates mit vergänglichen Helden ist eine skurrile Hommage an eine Trümmerkultur, die sich erst durch Sprengung voll entfaltet. – Eine philosophisch abgeklärte Trinkerlegende.

Martin Ahrends, Ich sehe eine Krähe. Satiren aus der ostdeutschen Provinz.
Berlin: Kulturmaschinen 2013, 70 Seiten, EUR 10,80, ISBN 978-3-943977-11-0.

 

Weiterführende Links:
Verlag Kulturmaschinen: Martin Ahrends, Ich sehe eine Krähe
Wikipedia: Martin Ahrends

 

Helmuth Schönauer, 03-06-2013

Bibliographie

AutorIn

Martin Ahrends

Buchtitel

Ich sehe eine Krähe. Satiren aus der ostdeutschen Provinz

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2013

Verlag

Kulturmaschinen Verlag

Seitenzahl

70

Preis in EUR

10,80

ISBN

978-3-943977-11-0

Kurzbiographie AutorIn

Martin Ahrends, geb. 1951 in Kleinmachnow, lebt in Hamburg.