Matthias Politycki, 42,195

Der echte Marathonlauf endet mit dem Tod. Der moderne Läufer rückt diesem möglichst nah an die Pelle und überwindet ihn. Freilich bleibt eine Todessehnsucht, sodass der Marathonläufer ständig neue Läufe in das Gelände setzen muss.

Matthias Politycki schreibt sich mit 42,192 die Kilometer einzeln vom Leib. Sein Essay ist in die Kilometer eines Marathonlaufs unterteilt und gibt in etwa wieder, was durch ein laufendes Hirn an Gedanken durchfließt, wenn die Versorgung mit Energie und Sauerstoff ans Limit kommt. Es handelt sich dabei um keinen Ratgeber, außer dem Rat, das Laufen als etwas Kluges zu begreifen.

Während der einzelnen Kilometer kommen freilich jene Themen zur Sprache, die einen modernen Dauerlauf ausmachen. Die Kleidung und das Outfit sind die halbe Maut, denn ein großer Stadtlauf wird meist vom Fernsehen übertragen und da muss man was gleichschauen. Im ersten Drittel gibt es auch noch Erotik, eine Frau nähert sich dem laufenden Subjekt auf einen Kilometer, worauf dieses in ein Gedicht verfällt. In dieser Phase bleibt auch noch Zeit, die Kleidung und den Schritt der Mitrennenden zu beobachten. Vor allem Männer, die das Gemächt nicht in die Hose bringen, sind ein zusätzlicher Ansporn, die Vorwärtsbewegung beizubehalten.

Mit der Zeit bleibt von der Umgebung nur mehr die blaue Linie, die von der Rennverwaltung als kürzester Weg von Start ins Ziel auf den Asphalt gesprüht wird, als Orientierung und Ermunterung. Der Unterschied zwischen joggen und laufen kommt ab Kilometer dreißig, wer diesen Lauf-Zustand erreicht, taucht in eine andere Welt voller platzender Hormone ein. Am Ziel gibt es dann nicht mehr viel zu denken, außer dass es auf der blauen Linie 42,195 km gewesen sind.

Während die Zeit des Laufens ziemlich genau jener des Denkens und damit auch des Lesens dieses Lauf-Traktates entspricht, werden Parallelen zum Roman gezogen, zur Philosophie und zum Leben überhaupt. Tatsächlich hat der Autor eine seiner Poetik-Vorlesungen als Marathonlauf der Poesie aufgebaut, was bei den Germanisten sehr gut angekommen ist. Die besten Ausreden für einen misslungenen Lauf lassen sich auch bei der Beurteilung eines misslungenen Romans verwenden.

War mental schlecht vorbereitet. Habe am Vortag zu wenig getrunken. (242)

Zwischen Wiederholung und Einmaligkeit, Plötzlichkeit und Langeweile tun sich Nistplätze für verrückte Gedanken auf. So sollen höhere Angestellte um sechzehn Minuten schneller den Marathon hinter sich bringen als schlecht bezahltes Personal. Die einzelnen Läufe werden unverwechselbar, indem sie sich an ein spezifisches Publikum wenden. Der Frankfurter Marathon etwa gleicht stark einem Börsenlauf, manche behaupten, gute Läufe seien nur im Umfeld einer Börse möglich.

Matthias Politycki schreibt seine Kilometer so authentisch, innig und über der Sache stehend herunter, dass man als Leser das Gefühl hat, selbst einen guten Lauf hingelegt zu haben. Ein zäher Leser ist nämlich nichts anderes als ein Marathonläufer zwischen den Zeilen.

Matthias Politycki, 42,195. Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken.
Hamburg: Hoffmann und Campe 2015, 314 Seiten, 20,80 €, ISBN 978-3-455-50338-8

 

Weiterführende Links:
Hoffmann und Campe Verlag 2015: 42,195
Wikipedia: Matthias Politycki

 

Helmuth Schönauer, 12-07-2015

Bibliographie

AutorIn

Matthias Politycki

Buchtitel

42,195. Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken

Erscheinungsort

Hamburg

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

Hoffmann und Campe

Seitenzahl

314

Preis in EUR

20,80

ISBN

978-3-455-50338-8

Kurzbiographie AutorIn

Matthias Politycki, geb. 1955, lebt in Hamburg und München.