Reinhard Wegerth, Früher und hier

Im Stimmenroman versammeln sich Sprüche, Ausfälle oder Anleitungen längst verschollener Situationen im Kopf zu einem stets abrufbaren Album aus vergangenen Zeiten.

Reinhard Wegerth setzt diese Erinnerungsmethode nach dem Roman „Damals und dort“ (2010) jetzt mit dem fast logischen Nachfolge-Roman „Früher und hier“ (2013) fort.

Die Methode, Stimmen erzählen zu lassen, ist sehr genau und dicht, weil sie die erinnerten Sequenzen meist rasch auf den Punkt bringt. Gleichzeitig bringt es dieser Duktus mit sich, dass auch Gegenstände, Konstellationen, Gerüche oder pure Materialien ein Gesicht mit Stimme bekommen.

So erzählt der Abstand der ehemaligen Stockbetten, die jetzt neben einander als Rohrgestelle in der Kammer der Kindheit stehen, den genauen Verlauf der Pubertät. Unterstützt wird diese Zeit von Sätzen aus dem begehbaren Schrank, wie der Beichtstuhl genannt wird. Darin sitzt ein aus den Fugen der Intimität geratener Pfarrer, den nicht so sehr das Wie-oft der Unkeuschheit interessiert, sondern die genaue Abfolge und die speziellen Techniken, die bei einer Unkeuschheit angewendet werden. (18)

Recht irdisch ist auch die Transformation von Lesestoff in Brennstoff, wenn eben noch wichtige Nachrichten in der Zeitung in den Ofenflammen aufgehen, oder noch schlimmer, wenn das Weltformat der Ereignisse zusammengeschnitten wird in handliche Stückchen, mit denen am Klo die Grundreinigung erfolgt.

Dieses Variieren der Bedeutung kommt auch in den Zwischentiteln zum Ausdruck, wenn mit der Ansage eines Weltereignisses Alltagsbegebenheiten lexikalisch verortet werden. „Daumen, verloren – Fortschritt, schweinemäßig – Herde, griechisch –– Ausspruch, außerirdisch – Plakatspruch, österreichisch“.

In diesen Schlagworten sind ganze Geschichten eingeschlossen, wenn etwa die Tragödie beleuchtet wird, dass man mit einem abgefallenen Daumen eine Bierflasche nur schwer öffnen kann, oder dass es zu einer geglückten Mondlandung vor allem einen sinnigen Sprich braucht, um das Ereignis unvergessen zu machen.

Wie gut der Spruch vom kleinen Schritt bei der Mondlandung ist, merkt man erst, wenn man diesen Satz einem Österreichischen Wahlplakat gegenüberstellt.

Wählen sie das moderne Österreich! (89)

Von solchen Sätzen, Parolen und Entgleisungen wird auch die heranwachsende Seele aufgespießt, jetzt freilich werden diese Ereignisse mild und anekdotisch, wenn sie als Stimmen aus einem längst ausgeklungenen Off der Fünfziger Jahre heraufgeholt werden.

Reinhard Wegerth gelingt es mit wenigen Schlagzeilen oft ein ganzes Jahrzehnt auszuleuchten. Dabei sind die offiziellen Floskeln heruntergebrochen auf eine persönliche Stimmung, die von dutzenden Stimmen zum Erklingen genbracht wird. – Eine raffinierte Methode, Zeitgeschichte persönlich und öffentlich korrekt zu erzählen.

Reinhard Wegerth, Früher und hier. Stimmenroman.
Klagenfurt: Sisyphus 2013. 98 Seiten. EUR 18,-. ISBN 978-3-901960-70-3.

Weiterführende Links:
Sisyphus Verlag: Reinhard Wegerth, Früher und hier
Wikipedia: Reinhard Wegerth

Helmuth Schönauer, 21-10-2013