Robert Menasse, Die Hauptstadt

Große Gebilde lassen sich nur mit einem Roman großer Ironie darstellen. So handelt der berühmte Musil-Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ beispielsweise von einer Parallelaktion, in der es darum geht, die Jubiläumsfeiern des deutschen Reiches mit einer noch größeren der k. und k. Monarchie zu übertreffen.

Robert Menasse nimmt als Musil-Kenner diesen roten Faden von Großveranstaltungen auf, wenn es darum geht, einem ganzen Kontinent einen Sinn, eine Zukunft, eine Feier und vor allem eine Hauptstadt zu verpassen. Die Hauptstadt spielt in Brüssel, wo aus allen EU-Ländern Beamte, Lobbyisten und Adabeis zusammenströmen, um vor allem gut zu essen und diskrete Seitensprünge abzuarbeiten.

Leitmotiv für eine Boulevard-eske Perspektive ist ein Schwein, das an diversen Überwachungskameras vorbei ständig durch Brüssel läuft und die sprichwörtliche Sau darstellt, die durch das Dorf getrieben wird. Im Hintergrund freilich wird über industrielles Massakrieren von Schweinen verhandelt, Vertreter von Kleinbauern erinnern sich noch an die kleinen Höfe in Randlage der EU und stehen dem Massenwahn in Brüssel fassungslos gegenüber.

Eine Kulturreferentin aus Zypern wird beauftragt, eine Kampagne zu entwickeln, um den Ruf der EU zu verbessern. Unterstützt wird dieses Unterfangen von einem gewissen Martin Susmann, der eine Mischung aus Geschichtsaufarbeitung, Philosophie und Zukunftsgedanken entwickeln soll. In unzähligen Hearings und Arbeitsgesprächen versucht er so etwas wie eine imaginäre Parallelaktion zu entwickeln. Provokanter Höhepunkt ist die Überlegung, Auschwitz als (Gedächtnis-)Hauptstadt Europas auszurufen, denn letztlich lässt sich Europa nicht ohne den Holocaust denken.

Das lebende Denkmal der Vernichtung stellt David de Friend dar, er hat die Nazi-Herrschaft überlebt und ist in einem Altersheim gestrandet, mitten in der Stadt, mit Panorama-Ausblick auf den Friedhof. Seine Aufgabe ist es nun, Listen von Überlebenden zu erstellen, aber die Streichungen werden häufiger, bald wird niemand mehr da sein. Ausgerechnet er, der alles überlebt hat, stirbt bei einem Anschlag.

Eine Menge zeitgenössischer Stoff ist in Mittagsgespräche oder Presseaussendungen verpackt, sogenannte Geistergeher dringen als Migranten über Autobahnen nach Deutschland ein, je kleiner die Länder in Randlage sind, desto nationalistischer gebärden sie sich, im Hotel Atlas soll ein Mord vertuscht werden. Fakten, Analysen und Fakes schwirren durch die Hauptstadt wie eh und je. Am Schluss fällt jemandem auf, dass das Schwein schon eine Zeitlang nicht mehr gesichtet worden ist.

Der Roman ist nach mit einem Prolog, elf Kapiteln und einem Epilog ausgestattet. Beeindruckend sind dabei die Mottos, mit denen die Kapitel unterlegt sind und die etwas Archaisches wie Gesetzestafeln haben.

„Letztlich ist der Tod auch nur der Beginn von Folgeerscheinungen.“ (77)
„Erinnerungen sind nicht unzuverlässiger als alles andere, was wir uns ausmalen.“ (141)
„Wenn etwas zerfällt, muss es Zusammenhänge gegeben haben.“ (401)

 

Robert Menasse, Die Hauptstadt. Roman
Berlin: Suhrkamp Verlag 2017, 458 Seiten, 24,70 €, ISBN 978-3-518-42758-3


Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Robert Menasse, Die Hauptstadt
Wikipedia: Robert Menasse

 

Helmuth Schönauer, 13-10-2017

Bibliographie

AutorIn

Robert Menasse

Buchtitel

Die Hauptstadt

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Suhrkamp Verlag

Seitenzahl

458

Preis in EUR

24,70

ISBN

978-3-518-42758-3

Kurzbiographie AutorIn

Robert Menasse, geb. 1954 in Wien, lebt in Wien.