Brendan Simms, Kampf um Vorherrschaft

„Es heißt oft, die Vergangenheit sei ein anderes Land, und in den zurückliegenden rund 550 Jahren, die in diesem Buch behandelt werden, hat man vieles anders gemacht als in der Gegenwart.“ (27)

Der irische Historiker Brendan Simms zieht Mitteleuropa und im speziellen den deutschen Raum in den Fokus seiner historischen Betrachtungen. Wegweisend bemerkt er gleich zu Beginn seiner Darstellung: „Das vorliegende Buch ist keine Geschichte Deutschlands, sondern eine deutsche Geschichte Europas.“ (9)

Die Darstellung der Geschichte Europas mit ihrem Brennpunkt „Deutschland“ erstreckt sich vom Ende des Oströmischen Reichs, mit dem Fall Konstantinopel im Jahr 1453 bis in die Krise der Europäischen Union, dem Konflikt in der Ukraine und der Herausforderung durch einen radikalen Islamismus in der Gegenwart. Dabei lässt Simms die vertraute Geschichte Europas diesmal mit dem Blick auf Deutschland Revue passieren, oder genauer gesagt jene Region Europas, wie sie sich vom Heiligen Römischen Reich deutscher Nation bis zur heutigen Bundesrepublik gewandelt hat.

Mit viel Ambition wird immer wieder die zentrale These des Buches herausgearbeitet, die die gesamte europäische Geschichte als Kampf um die Vorherrschaft in der Mitte Europas verstanden wissen will. Durch seine exponierte Lage in der Mitte Europas und das Machtvakuum durch die zersplitterten Kleinfürstentümer innerhalb des losen Verbunds des Heiligen Römischen Reichs wird Deutschland zum ständigen Schauplatz von Auseinandersetzungen europäischer Mächte um die Vorherrschaft in Europa.

Kaum eine wichtige Auseinandersetzung in Europa oder anderen Teilen der Welt, sei es die Französische Revolution, sei es der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg, ist nicht vom Blick der Mächte auf die deutschen Gebiete geprägt. Ist Deutschland vor der Vereinigung zu einem Staat Opfer und Schauplatz zahlreicher Kriege, wird es nach der Vereinigung selbst zum getriebenen Protagonisten und Aggressor um die europäische Vorherrschaft. Selbst die Entstehung der Europäischen Union geht aus dem Versuch hervor, die Mitte Europas, Deutschland, in ein größeres System einzubinden und Kriege in Europa für die Zukunft zu verhindern.

Die Bundesrepublik und die Europäische Gemeinschaft waren das beste Deutschland und das beste Europa, die es jemals gab. (18)

Während Deutschland 400 Jahre lang zu schwach war und verhindert werden musste, dass es einer europäischen Macht zum Opfer fiel, galt es nach der Vereinigung als zu stark und als Gefahr für den Weltfrieden. Heute steht Deutschland wirtschaftlich gestärkt in der Mitte Europas, während es der Europäischen Union nicht gelungen ist, die geraubte Souveränität ihrer Mitgliedstaaten durch demokratische Mitsprache zu ersetzen.

Und so betrachtet Simms auch die gegenwärtigen großen Krisen in Europa und an deren Peripherie als Krise der Integration Europas in sozioökonomischer und politisch militärischer Hinsicht.

Kurz, wie erledigen wir mit einem Streich die deutsche und die europäische Frage, denn die eine zu lösen bedeutet auch die Lösung der anderen. (23)

Brendan Simms bietet eine interessante und neue Sichtweise auf mehr als 500 Jahre europäischer Geschichte mit einem großen Seitenblick auf die Geschichte in Amerika und Asien. Konsequent werden Revolutionen wie in England, Amerika oder Frankreich, Kriege und wichtige politische Ereignisse als Folge oder Konsequenzen europäischen Handelns in Bezug auf Deutschland oder als Handlungen Deutschlands interpretiert.

Simms betritt mit seiner Betrachtungsweise den neuen Boden einer europäischen Geschichtsbetrachtung, die von einer europäischen Warte aus die Machtkämpfe in Europa während eines halben Jahrtausends analysiert und den Fokus einer nationalgeschichtlichen Sichtweise hinten anstellt. Ein überaus empfehlenswertes und spannend zu lesendes Buch zur Geschichte der Neuzeit aus einem europäischen Blickwinkel und einer diskussionswürdigen These.

Brendan Simms, Kampf um Vorherrschaft. Eine deutsche Geschichte Europas 1453 bis heute, übers. v. Klaus-Dieter Schmidt [Orig. Titel: Europe. The Battle for Supremacy, 1453 to the Present], 16 s/w Abb.
München: DVA Verlag 2014, 896 Seiten, 36,00 €, ISBN 978-3-421-04397-9

 

Weiterführende Links:
DVA Verlag: Brendan Simms, Kampf um Vorherrschaft
Wikipedia: Brendan Simms

 

Andreas Markt-Huter, 07-09-2015

Bibliographie

AutorIn

Brendan Simms

Buchtitel

Kampf um Vorherrschaft. Eine deutsche Geschichte Europas 1453 bis heute

Originaltitel

Europe. The Battle for Supremacy, 1453 to the Present

Erscheinungsort

München

Erscheinungsjahr

2014

Verlag

DVA

Übersetzung

Klaus-Dieter Schmidt

Seitenzahl

896

Preis in EUR

36,00

ISBN

978-3-421-04397-9

Kurzbiographie AutorIn

Brendan Simms ist Professor für die Geschichte der internationalen Beziehungen an der Universität Cambridge. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte Europas und die Geschichte Deutschlands im europäischen Kontext. Daneben publiziert er in Zeitschriften und Zeitungen zu aktuellen europapolitischen Themen.