Carl Djerassi, Der Schattensammler

Autobiographien weisen immer Alltagsmythologien und auf das Ende ist immer unklar.

Carl Djerassi weiß um die Fallstricke einer Autobiographie, immerhin hat er vor Jahren eine „fachliche Autobiographie“ über sich selbst als die „Mutter der Pille“ geschrieben, und sein Tagebuch einer Krise lässt sich ebenfalls als Autobiographie lesen.

Jetzt folgt die allerletzte Biographie und damit ist Schluss, meint der Autor und beginnt mit einem Suizid im Jahre 2023, da ist er dann hundert Jahre alt. Von diesem Ende her rollt er ein schier unglaubliches Leben aus, das lang gedauert hat, alle Höhen der Anerkennung, des Wohlstands und des Glücks beinhaltet, aber auch die Tiefschläge mehrerer Ehen, den Suizid der Tochter und vor allem die Vertreibung aus Wien durch die Nazis beinhaltet.

Nachdem Carl Djerassi einen Teil-Wohnsitz in Wien aufgeschlagen hat, zeigt er sich er sich versöhnt, wie er anlässlich einer Schenkung einer Skulptur an die Albertina betont, versöhnt heißt aber nicht verziehen oder vergessen. Zumal das arglistige und argwöhnische österreichische Wesen sofort wieder zum Vorschein kommt, wenn jemand aus dem Exil Zugereister eine Wohnung in Wien mieten will.

Einen möglichen Weg der Versöhnung stellt für ihn auch die Aktion der österreichischen Post dar, als man ihm unter den für Juden höchst alarmierenden Titel „abgestempelt“ als einzigem Lebenden eine Sonderbriefmarke widmet.
Carl Djerassi legt Wert darauf, „Jude“ immer als sechs Zeichen zu schreiben, denn wie immer man diesen Begriff anlegt, es bleibt ein Fehlgriff.

Neben den Kapiteln über die bulgarischen Wurzeln, das Exil, die diversen Wohnsitze und Ehen, dem Verhältnis zur Kunst und dem Zusammenbruch durch den Tod der Tochter stehen natürlich die beiden Lebensstränge im Vordergrund: Die Karriere als Welt-Chemiker, die in der Erfindung der Pille ihren Ausdruck findet, und als Schriftsteller des Erkenntnis-Theaters.

Nur wer die Fiktion mitbedenkt, kann die sogenannte Realität beschreiben, heißt eine These, die zu wundersamen Theaterstücken wie „Unbefleckt“, „Kalkül“ oder „EGO“ geführt haben.

In der Wissenschaft und in der Fiktion geht es jeweils um diese letzten oder ersten Fragen, wer darf Leben zeugen, darf man es verbieten, kann man es unterdrücken, kann man es planen? Letztlich ist die Erfindung der Pille von manchen auch mit der Atombombe verglichen worden mit der zynischen Fragestellung aus dem Publikum: „Wie viel Leben haben sie mit ihrer Erfindung eigentlich verhindert?“

Auf all diese Menschheitsfragen gibt sich Carl Djerassi Mühe, Antworten zu finden, die nur im Wechselspiel aus Fakt und Fiktion entstehen können. - Bei all diesem lebenslangen Suchen bescheiden zu bleiben, neugierig und Lebens-willig, das ist die beeindruckende Botschaft, die uns der „Meister des Erkenntnis-Theaters“ quasi so nebenher vermittelt.

Carl Djerassi, Der Schattensammler. Die allerletzte Biographie.
A. d. Amerikan. von Ursula-Maria Mössner.
Innsbruck: Haymon 2013, 477 Seiten, EUR 24,90, ISBN 978-3-85218-720-4.

 

Weiterführende Links:
Haymon Verlag: Carl Djerassi, Der Schattensammler
Wikipedia: Carl Djerassi

 

Helmuth Schönauer, 26-12-2013

Bibliographie

AutorIn

Carl Djerassi

Buchtitel

Der Schattensammler. Die allerletzte Biographie

Originaltitel

Last Autobiography

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2013

Verlag

Haymon Verlag

Übersetzung

Ursula-Maria Mössner

Seitenzahl

477

Preis in EUR

24,90

ISBN

978-3-85218-720-4

Kurzbiographie AutorIn

Carl Djerassi, geb. 1923 in Wien, lebt in Kalifornien.