Gino Chiellino, Der Engelfotograf

Zu den verwerflichsten Dingen gehört die Rekrutierung von Kindern für ein diffuses politisches Ziel. Was man heute diversen Terrorgruppen vorwirft, hat bis vor kurzem noch die Kirche perfekt abgewickelt.

Gino Chiellino beschreibt eine Kinderekrutierung aus der Sicht eines betroffenen Kindes in Kalabrien. Im Sommer 1957 sind die in Bio-Wolle gekleideten Patres aus dem Norden wieder in den armen Gegenden des Südens unterwegs, um Ausschau zu halten nach lebensfrohen Kindern, mit denen sie die Internate füllen werden. Die Armut ist ein Argument, gegen das keine Eltern und Verwandten aufkommen, und so kommt der Knabe Rusco in das Internat.

Er verlässt eine archaische Gesellschaft, worin jeder wortlos seine Rolle ausfüllt.

Am Tag komme ich mit drei, gegebenenfalls mit vier Wörtern aus. (23)

Selbst das Schlachten eines Schweines ist genau geregelt, die Messer sind nummeriert, mit denen die diversen Handgriffe zu geschehen haben.

Die Kindheit erlebt Rusco jetzt als abgeschlossene Welt, die mit der in spitzen Protokollsätzen abgeführten Internatsgegenwart nichts mehr gemein hat. Eben noch ist der Gallische Krieg in männlich kriegerischen Sätzen übersetzt worden, da geht es schon hinein ins Schwitzen, die ganze Messe ist ein Schwitzen, und hintennach beim Duschen kommt die Haut zum Zug, die viele Berührungspunkte hat und vor allem drei Schichten, die man erotisch abarbeiten muss.

Im Untergrund des Empfindens ist eindeutig Sex dabei, aber die Kutten decken auch viel zu und es gibt keine klare Sprache. Einmal kommt es zu einem Wett-Wixen der Jugendlichen, der Sommer steht bevor und alle sind furchtbar sonnig und interkontinental aufgelegt. Es gilt, den Missions-Brüdern in Afrika zu schreiben, vielleicht wird der eine oder andere schon bald in die Mission aufbrechen müssen.

Rusco kommt da nicht mehr mit, beim Fußball spielt er freiwillig Libero, da braucht er nicht anzugreifen und nichts mit den Händen zu halten. Ihn plagen psychische Hodenschmerzen, so dass er auch dieses Jahr nicht nach Afrika kann. Er probiert verschiedene Beichtstühle aus, ob vielleicht einer die Erlösung bringt, allein, es gibt nichts zu beichten, die ganze Klosterwelt ist noch verschlossener als die Kinderwelt Kalabriens.

Nach großen Qualen rafft sich Rusco endlich zum erlösenden Satz auf. Er heiße Rusco und möchte Möbeltischler werden. Jetzt ist es heraussen, die Welt steht offen.

Gino Chiellino erzählt in einer knappen, beinahe wortlosen Sprache von den Leiden eines Zöglings und seiner Initiation für eine normale Welt. Das Wirtschaftsgefälle zwischen Nord und Süd, die Mission in Afrika oder die sexuellen Attacken kommen ohne große Quellenangaben aus. Es gibt vielleicht gar kein Ziel, aber alle rennen nach einem geheimen Plan herum und arbeiten an einem großen Gebilde, das Geld, Gott oder IS sein kann. – Eine erschreckend einleuchtende Rekrutierungsgeschichte!

Gino Chiellino, Der Engelfotograf. Eine Kindheit in Kalabrien, Roman
Wien, Bozen: folio 2016, 158 Seiten, 20,00, ISBN 978-3-85256-701-5

 

Weiterführende Links:
Folio Verlag: Gino Chiellino, Der Engelfotograf
Wikipedia: Gino Chiellino

 

Helmuth Schönauer, 22-11-2016

Bibliographie

AutorIn

Gino Chiellino

Buchtitel

Der Engelfotograf. Eine Kindheit in Kalabrien

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Folio Verlag

Seitenzahl

158

Preis in EUR

20,00

ISBN

978-3-85256-701-5

Kurzbiographie AutorIn

Gino Chiellino, geb. 1946 in Kalabrien, seit 1970 in Deutschland, lebt in Augsburg.